Das weiße Amulett
Brücke von Maincy , die als Nachdruck bei ihr zu Hause einen Ehrenplatz hatte, und Monets Die Mohnblumen , die sie als Postkartenbild schon so oft in der Hand gehalten hatte – und nun stand sie vor den Originalbildern. Es war äußerst faszinierend, die einzelnen Pinselstriche zu betrachten und sich vorzustellen, wie Cézanne mit seinem langen weißen Bart wohl vor diesen Bildern gesessen und ihnen liebevoll Leben eingehaucht hatte.
Gleich daneben hingen Van Goghs berühmte Sonnenblumen , und an der gegenüberliegenden Seite des Saals sein Selbstbildnis von 1889 und Das Zimmer in Arles . Karen fühlte sich wie in einem Karussell. Ganz gleich, in welche Richtung man sich drehte, überall blickte man auf wunderbare Bilder in fließenden Farben.
Mansfield stand einen halben Schritt hinter ihr und betrachtete und beobachtete abwechselnd die Bilder und die Menschen um sich herum, deren unterschiedliche Begeisterung zwischen ruhiger Verzauberung und plapperndem Wortschwall ihn faszinierte. Auch Karen beobachtete er, wie sie mit leuchtenden Augen das sanfte Grün der Bäume Cézannes in sich aufsog. Auch er liebte die Impressionisten, aber im Gegensatz zu ihr bevorzugte er Van Gogh, dessen Bilder er sich genau anschaute. Doch plötzlich glitt sein Kopf leicht zur Seite, und die Farben verschwammen vor seinen Augen. Er zuckte zusammen und riss den Kopf wieder hoch, aber es wollte nicht aufhören. Mit zusammengekniffenen Augen wandte er sich um und suchte nach Karen, doch sie war nirgends zu sehen. Erst im Nachbarraum entdeckte er sie in einen Gauguin vertieft. Er eilte unbemerkt an ihr vorbei zu den Toiletten. Dort wusch er sich die Hände und schüttete sich immer wieder kaltes Wasser ins Gesicht, bis er sich allmählich besser fühlte. Was war nur mit ihm los? Warum waren seine Knie auf einmal so weich? Er betrachtete sich im Spiegel und versuchte seiner Schwäche Herr zu werden.
Eine Viertelstunde später bemerkte Karen, dass Mansfield nicht mehr in ihrer Nähe war. Auch in den Nachbarräumen war er nicht. Ihr Herz schlug schneller, als sie überlegte, wo er sein könnte, doch dann sah sie ihn mit langen Schritten auf sich zukommen.
Sie runzelte die Stirn und musterte ihn. »Wo sind Sie gewesen? Sie waren auf einmal nicht mehr da.« Ihre Stimme klang ein wenig beunruhigt.
»Entschuldigung, ich hätte vielleicht besser Bescheid sagen sollen, aber Sie waren so sehr in den Gauguin vertieft, dass ich Sie nicht stören wollte. Ich war nur vorn bei der Verkaufstheke und habe mir die Museumsführer angeschaut.«
Sie betrachtete seinen leeren Hände. »Sie haben aber nichts gekauft.«
»Nein, ich wollte noch auf Sie warten«, log er. »Wie weit sind Sie?« Karen hatte offenbar nicht gemerkt, dass er aus der falschen Richtung gekommen war.
»Ich bin noch nicht ganz durch, aber warum fragen Sie? Haben wir keine Zeit mehr?«
»O doch«, sagte er mit fahrigem Blick auf die lange Bilderreihe an der Wand und wischte sich unbewusst die kalten Schweißperlen von der Stirn. »Was macht Ihr Knöchel?«
Sie wechselte für einen Moment von ihrem linken Standbein auf den rechten Fuß und lächelte tapfer. »Er meckert ein wenig, aber da muss er heute durch.«
»In den nächsten Räumen sind keine Ihrer Lieblingsmaler mehr«, meinte er.
»Das macht nichts, die anderen Bilder sind auch sehr schön. Und wer weiß, ob ich sie jemals wiedersehen werde?«
Er hob die Augenbrauen. »Warum nicht?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht.«
20
Sie blieben noch eine halbe Stunde im Museum, ehe sie sich langsam auf den Heimweg machten und zum Louvre hinübergingen, um in den Tuilerien noch ein Eis zu essen. Sie gingen gerade auf der Pont du Carrousel über die Seine, als Mansfield auf einmal stehen blieb, sich gegen das breite steinerne Geländer der Brücke lehnte und auf das Musée d’Orsay zurückblickte. Es lag so friedlich zwischen einigen Bäumen an der Seine.
Karen stellte sich neben ihn und betrachtete sein abwesendes Gesicht, dann sah auch sie zum Museum hinüber.
»Redet es mit Ihnen?«
Er musste lächeln. »Ich glaube schon.«
»Die alte Nationalbibliothek hat auch mit mir gesprochen, aber ich habe sie nicht verstanden«, sagte sie gedankenvoll. »Es ist ein Gespür, ein Gefühl, das man für das Gebäude entwickelt. Man fühlte sich wohl – oder auch das Gegenteil.«
Er nickte. »Ja, so ist es«, sagte er mehr zu sich selbst. Er sah in Karens von der Sonne beschienenes Gesicht, das ihn anlächelte und ihm
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