Das weiße Amulett
besser als die Wahrheit.
»Es wird Sie doch wohl irgendjemand gesehen haben, Monsieur«, bellte Laurent.
»O sicher, dutzende, aber niemand, den ich Ihnen nennen könnte. Tut mir Leid. Wollen Sie mich deswegen verhaften?«
»Machen Sie sich nicht über mich lustig, ich warne Sie. Und Sie, Madame? Wo waren Sie heute Nachmittag?«
Mansfield und Karen sahen ihn ungläubig an.
»Wie bitte?«, fragte Karen, während Mansfield ihr schnell zu Hilfe kam.
»Jetzt hören Sie aber auf, Laurent! Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, Madame Alexandre des Mordes zu beschuldigen.«
»Warum nicht? Der Mann hat zweiundachtzig Jahre lang friedlich in Paris gelebt, und genau an dem Tag, an dem ich Ihnen die Notiz mit seiner Adresse gebe, wird ihm in seiner Wohnung die Kehle aufgeschlitzt. Das war wirklich kein schöner Anblick, Monsieur, glauben Sie mir.« Er fuchtelte wieder mit dem Foto herum.
»Warum hätten wir so etwas tun sollen?«, fragte Mansfield, um von Karen abzulenken, die bedenklich blass geworden war. »Der Mann hat uns nichts getan. Im Gegenteil, er hätte Madame Alexandre vielleicht etwas über den Professor erzählen können.«
»Stimmt genau. Und das ist wahrscheinlich auch der springende Punkt, weshalb er sterben musste. Allerdings hat das merkwürdigerweise bis zum heutigen Tag niemanden interessiert. Erst seit Sie beide hier aufgetaucht sind und in diesem uralten Bernhardt-Fall herumgraben, habe ich es mit einem verrückten Messerfetischisten zu tun, der es auf Madame Alexandre und andere Menschen abgesehen hat. Bei Gott, wenn ich den in die Hände kriege, bekommt dieses Schwein eine Kugel von mir verpasst. Das schwöre ich Ihnen.«
Laurent war regelrecht in Rage geraten, und Mansfield erkannte, dass viele Schuldgefühle in seinen Worten mitschwangen.
»Es ist weder Ihre noch unsere Schuld, was Monsieur Tanvier heute geschehen ist«, sagte Mansfield. »Also beruhigen Sie sich. Sie werden den Kerl schon kriegen, falls er sich wieder blicken lässt. Oder vielleicht taucht er auch nicht wieder auf.«
»Von wegen, er taucht nicht wieder auf. Wehe ihm, wenn er einfach so verschwindet! Ich will ihn haben! Um jeden Preis!«
»Beruhigen Sie sich, Monsieur Laurent. Kommen Sie, setzen Sie sich, und trinken Sie einen Whiskey mit mir.«
»Ich will nicht mit Ihnen trinken, und ich will mich auch nicht setzen«, entgegnete er barsch und verabschiedete sich.
Mansfield zog die Tür hinter ihm ins Schloss und eilte zu Karen zurück, die völlig versteinert auf dem Sofa saß.
»Der Mann ist tot«, flüsterte sie. »Er ist tot, weil er etwas über den Professor wusste?«
Mansfield setzte sich neben sie auf die Couch. »Er war schon sehr alt …«
»Aber er ist ermordet worden. Was ist, wenn Laurent Recht hat und der Mann meinetwegen gestorben ist? Weil ich diese Nachforschungen wegen Bernhardt mache?«
»Vielleicht war es ein Raubmord«, versuchte Mansfield sie zu beruhigen. »Vielleicht hat Laurent voreilige Schlüsse gezogen und ist gleich zu uns ins Hotel gerannt. Niemand wird Sie für diesen Mord verantwortlich machen können. Glauben Sie mir, es war nicht Ihre Schuld.«
Sie stand auf und ging zum Fenster. Draußen legte sich allmählich ein dunkler Schleier über die Stadt, und von Westen her näherte sich eine Unwetterfront.
»Bitte entschuldigen Sie mich, ich fühle mich nicht gut und werde ins Bett gehen.« Sie zog die Fenstervorhänge zu, humpelte ins Schlafzimmer und schloss die Türen hinter sich.
Mansfield bestellte sich beim Zimmerservice zwei doppelte Whiskey und kippte sie schnell nacheinander runter.
»Was für ein Tag«, dachte er und legte sich auf die unbequeme Couch. Sein Nacken würde ihm morgen wahrscheinlich wieder zu schaffen machen, aber das war ihm im Moment egal.
Am nächsten Morgen kam Karen immer noch humpelnd ins Zimmer und ließ sich mit einem leisen Stöhnen in den erstbesten Sessel sinken.
Mansfield blickte sie besorgt an. »Können Sie immer noch nicht richtig auftreten?«
Sie legte den Fuß auf den linken Oberschenkel und versuchte den schmerzenden Knöchel ein wenig zu massieren. »Nein, leider nicht.«
»Wann gehen Sie zum Arzt?«
»Gar nicht.«
Sie streckte den Fuß aus und versuchte ihn zu lockern, während Mansfield ihn sich genauer betrachtete. Die Schwellung war deutlich erkennbar.
»Mit dem Fuß wollen Sie die nächsten Tage in Paris herumlaufen? Das kann nur ein schlechter Scherz sein. Also wenn Sie nicht zu einem Arzt gehen wollen, werde ich Ihnen jetzt einen
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