Das weiße Amulett
wieder in meinem Büro zu sehen. Ist das klar?«
»Sonnenklar, Chief«, antwortete Davidson und versuchte ganz ruhig zu klingen. Es sah nicht gut aus für seinen Freund. Du bekommst immer mehr Probleme, Michael. Sieh zu, dass du die Dinge endlich geregelt kriegst.
19
Karen und Mansfield standen in der großen sonnendurchfluteten Haupthalle des Musée d’Orsay, in der überall Plastiken und Statuen von Künstlern wie Rodin, Mercié und Carpeaux auf den blockähnlichen Ebenen der neuen Innenarchitektur zu sehen waren. Man konnte sich kaum vorstellen, wie hier vor hundert Jahren, als das Museum noch ein Bahnhof war, rollende Züge die Reisenden aus Südfrankreich in die Hauptstadt gebracht und mehrere tausend Menschen hier täglich wie ein Bienenschwarm ihren Weg gesucht hatten. Die Schienen waren abgebaut, die Gleise verschwunden. Heute schien das Sonnenlicht wieder durch die alte Glasdachkonstruktion auf die vielen tausend Besucher des Museums.
Karen schaute nach oben und sah fasziniert auf die große goldfarbene Bahnhofswanduhr, die den Menschen auch heute noch mit ihren schmalen Zeigern die genaue Zeit ankündigte. Wie eine aufgehende Sonne thronte sie über allen Kunstwerken an der Stirnseite der großen Halle.
Mansfields Augenbrauen zogen sich zusammen, als er die große goldene Uhr sah. Er konnte sich ihrer Schönheit nicht erfreuen und neigte leicht den Kopf zu Karen.
»Haben Sie sich schon ein Objekt der Begierde ausgesucht, oder sollen wir gleich zu den Impressionisten gehen?«
Karen wandte den Blick von Merciés dunklem David ab und sah Mansfield irritiert an. Sie verstand nicht, warum er jetzt schon drängte, hatte er doch den Besuch des Museums vorgeschlagen.
»Wieso ein Objekt der Begierde? Ich wollte mir eigentlich das ganze Museum angucken. Jeden Raum.«
Mansfield runzelte die Stirn. »Aber dazu braucht man Stunden. Glauben Sie, dass Ihr Knöchel das aushält?«
Mit einem Seufzen musste sie ihm Recht geben, und so entschied sie sich für einen gekürzten Rundgang. Bei Pradiers gedankenverlorener Sappho bemerkte Mansfield mit einem Schmunzeln, wie Karens rechte Hand unwillkürlich nach oben zuckte. Zu gerne hätte sie den weißen Marmor berührt, aber sie konnte sich gerade noch beherrschen.
Im Zwischengeschoss schlenderten sie an den extravagant geschwungenen Möbelstücken von Hector Guimard aus der Zeit der Belle Époque vorbei und arbeiteten sich allmählich bis zur höchsten Etage vor. Sie nahmen eine der Seitentreppen, die sie zu einem schmalen Gang entlang der hohen Milchglaswand hinter der großen Wanduhr führte. In der Mitte des Gangs standen zwei Frauen, die leicht gebeugt durch ein kleines Loch schauten. Was hatten sie beobachtet? Karen konnte ihre Neugierde nicht unterdrücken und warf ebenfalls einen Blick durch das freie Karree der Eisenkonstruktion und war erstaunt. Durch das Guckloch hatte man einen einmaligen Blick auf die verschiedenen Ebenen und Plastiken der gesamten Zentralhalle.
»Kommen Sie, Michael, das müssen Sie sich unbedingt anschauen«, sagte sie und machte ihm Platz. »Ist das nicht fantastisch?«
»Ja, fantastisch«, erwiderte er ohne jede Begeisterung.
»Was ist mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?« Irgendetwas in seiner Stimme beunruhigte sie. Sie betrachtete sein blasses Gesicht und griff nach seinem Arm, aber er lächelte wieder.
»Mit mir ist alles in Ordnung. Wollen wir weiter?«
Karen zögerte kurz. Sein Gesicht war immer noch unnatürlich blass, aber er schien nicht über den Grund reden zu wollen.
Die Ausstellungsräume der Impressionisten waren nicht nach einzelnen Malern sortiert, und so konnte man die Renoirs und Van Goghs in mehreren der türlosen Räume betrachten, während Touristen aus aller Herren Länder um einen herumschwirrten und ein leises babylonisches Stimmengewirr in der Luft lag. Auf den abgenutzten Stühlen aus Rohrgeflecht sah man den dicklichen älteren Japaner neben der schmalen Argentinierin sitzen, die neben sich eine kleine Familie aus den Niederlanden hatte, und alle redeten fröhlich über ihre Entdeckungen und Gedanken dieses eindrucksvollen Tages, an dem sie so viel Neues gesehen hatten. Es war ein einziges großes Stelldichein aller Kontinente im alten Europa.
Karen zog es natürlich sofort zu ihren Lieblingsmalern Claude Monet und Paul Cézanne, aber ihr Lieblingsbild konnte sie leider nicht entdecken. Das hängt wahrscheinlich im Wohnzimmer eines reichen Sammlers, dachte sie enttäuscht. Aber dann fand sie Die
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