Das weiße Grab
selbst. Maryann Nygaard war bei ihrem Tod dreiundzwanzig Jahre alt, Catherine Thomsen zweiundzwanzig. Beide Frauen waren mittelgroß und schlank, mit einem beinahe athletischen Körperbau. Beide Frauen hatten schwarze, lockige Haare, die ihnen bis zum Rücken reichten, und in beiden Fällen waren die Haare offen, als man sie fand. Betrachtet man ihre Gesichter, finden sich auch dort viele Ähnlichkeiten. Beide waren hübsch, mit feinen Gesichtszügen, hohen Wangenknochen und braunen Augen. Natürlich gibt es auch Unterschiede, besonders im Bereich der Nasenpartie, aber ohne einen objektiven Beweis dafür zu haben, finde ich, dass sie sich ziemlich ähnlich sahen.«
Arne Pedersen nahm Pauline Bergs Hand. Sie missverstand ihn und wies ihn beim ersten Mal ärgerlich ab, bloß um gleich darauf zu erstarren und erschüttert nach seiner Hand zu greifen.
Konrad Simonsen redete weiter: »Ich sollte an dieser Stelle sicher anmerken, dass man natürlich auch eine Reihe von Unterschieden findet, wenn man sich das Material genauer anschaut, aber – und das ist meine persönliche Meinung – nichts davon entkräftet die verblüffende Ähnlichkeit dieser beiden Fälle.«
Niemand des kleinen, aber sachkundigen Publikums meldete Bedenken an oder versuchte seine Schlussfolgerung in Frage zu stellen.
»Eine weitere Parallelität ist, dass keine der beiden Frauen vergewaltigt wurde. Sieht man von ihren entblößten Brüsten ab, müssen wir vermuten, dass es zu keiner sexuellen Nötigung gekommen ist. In Maryann Nygaards Scheide steckte ein unversehrter Tampon, und Catherine Thomsen war Jungfrau – was vermutlich damit zu tun hatte, dass sie den Zeugen Jehovas angehörte, die Sex vor der Ehe bekanntermaßen ablehnen. Des Weiteren konnten an keinem der Tatorte Samenspuren gefunden werden.«
Konrad Simonsen schwieg und wartete die Reaktionen ab. Sie kamen schnell. Alle waren sich einig, dass die Person, die 1983 Maryann Nygaard ermordet hatte, knapp vierzehn Jahre später auch Catherine Thomsen umgebracht haben musste. Er atmete tief durch und kam zu dem Punkt, vor dem ihm seit Tagen graute. Seine Einleitung hatte er mit Sorgfalt gewählt: »Das Nächste ist nicht leicht für mich, und ich denke, dass es einigen von euch nicht anders geht, weil ja auch ihr an der Ermittlungsarbeit im Fall Catherine Thomsen beteiligt wart. Für diejenigen, die den Fall nicht kennen, möchte ich ihn kurz zusammenfassen und dabei so offen wie möglich über meine eigene Rolle Auskunft geben. Nicht zuletzt, um damit auch gegen gewisse Mythen anzugehen.«
Die Anwesenden nickten still. Ein älterer Beamter fischte eine Sonnenbrille aus der Innentasche seiner Jacke und versteckte seine Augen hinter zwei kleinen, verspiegelten Scheiben.
»Es ist wohl an der Zeit, festzuhalten, dass der verstorbene Fernfahrer Carl Henning Thomsen im September 1983 definitiv nicht in Grönland war. Zu diesem Zeitpunkt verbüßte er im Gefängnis von Vridsløselille eine Haftstrafe wegen Drogenhandels. Er hat folglich Maryann Nygaard nicht getötet und demnach auch nicht seine Tochter Catherine Thomsen. Die Indizien, die wir 1998 gegen ihn zusammengetragen haben, müssen also konstruiert gewesen sein – ein Gedanke, der bereits damals kurz aufgekommen war, dem wir aber leider keine Beachtung geschenkt haben.«
Tränen liefen über Konrad Simonsens Wangen, doch seine Stimme war fest, und er nahm das Taschentuch, das Pauline Berg ihm reichte, ohne seine Erläuterungen zu unterbrechen. Er wandte allerdings seinen Kopf ab, als auf dem Bildschirm das Porträt eines Mannes mittleren Alters erschien, der müde, mit traurigen Augen und einem von Unglück gezeichneten Gesicht in den Raum schaute.
»Das Ehepaar Carl Henning und Ingrid Thomsen wohnte in Haslev, wo sie gemeinsam ein kleines Umzugsunternehmen betrieben. Beide waren Zeugen Jehovas, ebenso ihre einzige Tochter Catherine, die nach Østerbro hier in Kopenhagen gezogen war, wo sie eine Ausbildung zur Physiotherapeutin machte. In ihrer Freizeit gingen sowohl die Eltern als auch Catherine von Tür zu Tür, um ihre Religion zu verbreiten. Oft besuchten die Eltern auch ihre Tochter und liefen dann gemeinsam durch die Stadt, um zu missionieren. Am Samstag, den 5 . April 1997 verschwand Catherine; am Morgen war sie mit dem Zug von Kopenhagen nach Haslev gefahren. Mit Sicherheit zuletzt gesehen wurde sie auf dem Bahnhof von Roskilde. Ihre Mutter war zu diesem Zeitpunkt in Jütland bei ihrer Schwester, und ihr Vater beteuerte,
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