Das weiße Grab
peinlichen Episoden, über die er sich im Vorfeld so viele Gedanken gemacht hatte, hatten sich rasch in Wohlgefallen und Lachen aufgelöst. Ja, er hatte es sogar genossen, ein bisschen umsorgt zu werden. Es war lange her, dass er richtig gelacht und so gut geschlafen hatte. Erst jetzt im Auto quälten ihn die Fehler, die bei den Ermittlungen des Mordfalls Catherine Thomsen gemacht worden waren, wieder, und plötzlich meldete sich auch der Drang nach einer Zigarette. Er beugte sich vor, um seine Wunden zu kratzen, riss sich dann aber zusammen und konzentrierte sich darauf, Poul Troulsen zu informieren: »Annie Lindberg Hansson wohnte bei ihrem Vater, allem Anschein nach ein ziemlicher Sozialfall, wenn ich das, was da zwischen den Zeilen stand, richtig gedeutet habe. Aber das erfahren wir ja bald. Ihr Haus liegt recht einsam unweit der Kirche Jungshoved. An diesem Ort gibt es außer dem Haus eigentlich nur Schafe, Wasser und eben diese Kirche. Das bedeutet natürlich, dass Annie auf der Strecke von der Bushaltestelle bis zu ihrem Haus ziemlich allein war. Einen perfekteren Ort für einen Überfall auf ein junges Mädchen kann man sich kaum vorstellen: Es war dunkel und einsam, und ihre Fahrradlampe war sicher schon von weitem zu sehen.«
»Diese Sache gefällt mir immer weniger.«
»Der Staat zahlt uns nicht dafür, dass wir Spaß haben. Also, wo war ich? … Ja, der Vater hat sie bereits am Abend als vermisst gemeldet und dann noch einmal am nächsten Morgen. Es wurde nach ihr gefahndet, aber der Einsatz der Polizei hielt sich ziemlich in Grenzen, um das mal vorsichtig auszudrücken.«
»Warum? Haben die ihm nicht geglaubt?«
»Jetzt halt doch mal den Mund, das ist ja nicht zum Aushalten! Also, irgendwie haben alle damit gerechnet, dass die Tochter bald wieder auftaucht, wahrscheinlich in Kopenhagen. Ihr Vater und sie hatten nämlich vor ihrem Verschwinden eine heftige Auseinandersetzung, weil sie in die Stadt ziehen und endlich etwas aus ihrem Leben machen wollte. Er hingegen war der Meinung, sie habe die Pflicht, bei ihm zu bleiben und sich um ihn zu kümmern, da seine Frau, also ihre Mutter, vor einem Jahr gestorben war. Die Behörden gingen deshalb lange davon aus, dass sie ihre eigenen Konsequenzen aus diesem Streit gezogen und ihn verlassen hatte, um sich später, wenn ihr Vater sich wieder beruhigt hatte, bei ihm zu melden. Obwohl der Vater regelmäßig bei der Polizei in Næstved und Præstø vorstellig wurde, ist er über lange Zeit einfach ignoriert worden. Der Fall hatte für die Beamten dort keinerlei Priorität.«
»Man könnte wirklich aus der Haut fahren, aber wahrscheinlich muss man dafür wissen, was wir wissen. Die meisten jungen Menschen, die verschwinden, tauchen schließlich irgendwann wieder auf.«
»Ja, zum Glück, aber Annie Lindberg Hansson tauchte nie wieder auf – eine Erkenntnis, die den Beamten leider erst gekommen ist, als alle Spuren kalt waren, wenn es denn überhaupt jemals Spuren gegeben haben sollte. Ich persönlich bezweifle das. Dazu kommt noch, dass niemand wirklich an ein Verbrechen geglaubt hat. Alle gingen davon aus, dass sie die Verbindung zu ihrem Elternhaus ein für alle Mal abgebrochen hatte und vielleicht irgendwo im Ausland lebte.«
»Vielleicht besteht ja noch Hoffnung.«
»Glaubst du das wirklich?«
»Nein, leider nicht. Nicht, nachdem ich sie gesehen habe und weiß, dass Andreas Falkenborg in der Nähe war. Wer weiß, ob er dieses Ferienhaus in Tjørnehoved gekauft hat, bevor oder nachdem er sie gesehen hatte?«
»Genau das wollen wir heute herausfinden, aber wenn ich einen Tipp abgeben sollte, würde ich sagen,
danach.
Das würde gut zu seinem Vorgehen bei den anderen Morden passen. Anscheinend war er bereit, seinen ganzen Alltag zu ändern, um sich eine gute Ausgangsbasis für seine Untaten zu schaffen. Sein Handeln ist extrem zielgerichtet, wenn er erst ein Opfer ausgemacht hat, und er scheut keine Mühen, mögliche … wie soll ich das sagen … Kandidatinnen zu finden. Wir sollten einen Psychologen hinzuziehen.«
Poul Troulsen dachte eine Weile nach und sagte vorsichtig: »Wenn Frauen nicht exakt das richtige Aussehen und Alter haben, ist er ungefährlich. Haben sie aber schwarze Haare, sind schlank, schön und sportlich, bringt er sie um?«
»Das scheint so zu sein, ja, aber wie gesagt, wir sollten mal mit einem Psychologen reden.«
»Was würde mich das freuen, diesen Typ den Gefängniswärtern zu übergeben.«
»Erst einmal brauchst du ein paar
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