Das weiße Grab
Wärme, die über Kopenhagen lag, wurde von einem Gewitter und heftigem Regen abgelöst, als der Zug sich Roskilde näherte. Pauline Berg empfand den Wetterwechsel als befreiend, auch wenn sie im Zug noch nichts davon spürte. Sie blickte aus dem Fenster und sah, wie die Domkirche mit ihren Zwillingstürmen von dem grellen Licht der Blitze erleuchtet wurde, die aus dem bleigrauen Himmel hervorzuckten. Sie war noch weit weg und sah fast wie ein Modell aus, im Miniaturformat. Kurz darauf traf der Regen den Zug und nahm ihr die Aussicht. Eine Weile betrachtete sie den unregelmäßigen Lauf des Wassers über die Scheibe und fragte sich, warum einige Tropfen hängen blieben, während andere in rasendem Tempo über das Glas gepeitscht wurden.
Am Samstag, dem 5 . April 1997 , war Catherine Thomsen um kurz nach neun Uhr mit dem Regionalzug aus Kopenhagen in Roskilde angekommen. Mehrere Zeugen hatten sie im Zug gesehen und konnten bestätigen, dass sie allein gereist war. In Roskilde war sie ausgestiegen, wahrscheinlich auf Gleis 1 , also dem Gleis, das dem Bahnhofsgebäude am nächsten war. Auch das hatten Zeugen bestätigt. Von dort aus musste sie durch einen kurzen Tunnel, der unter den Schienen hindurch zu Gleis 6 führte, an dem der Zug nach Næstved über Haslev sieben Minuten später ankommen sollte. In diesem Zug war sie aber von niemandem mehr gesehen worden, weshalb es mehr als wahrscheinlich war, dass sie in diesen Zug nie eingestiegen war. Das Wetter war am 5 . April regnerisch und windig gewesen, und die Temperatur hatte etwa sieben Grad betragen. Es war nicht anzunehmen, dass sie das Bahnhofsgelände verlassen hatte, außer sie hätte irgendetwas erledigen müssen.
Pauline Berg ging Catherine Thomsens Weg fünfmal ab. Langsam und systematisch von dem Gleis durch den Tunnel zu dem anderen Gleis, während sie versuchte, alle Eindrücke in sich aufzusaugen. Es goss in Strömen, und das Halbdach der Gleise bot ihr nur geringfügig Schutz. Ihre Hose wurde nass, aber sie war zu beschäftigt, um sich darum zu kümmern.
1997 besaß Andreas Falkenborg einen silbergrauen Saab 900 , den er sowohl vor als auch hinter dem Bahnhofsgebäude geparkt haben konnte. Aber was brachte eine zweiundzwanzigjährige Frau dazu, ihre Reise zu unterbrechen und einen gut vierzigjährigen Mann zu seinem Auto zu begleiten? Aus Andreas Falkenborgs Sicht war dieser Ort vermutlich der ungünstigste überhaupt, wollte er Gewalt anwenden oder ihr drohen. Dafür gab es viel zu viele Zeugen. Sie setzte sich für eine Tasse Kaffee in das Bahnhofscafé und zementierte die Schlussfolgerung, zu der sie bereits vor einigen Tagen gekommen war: Andreas Falkenborg und Catherine Thomsen kannten sich. Aber auch eine Bekanntschaft erklärte die Vorgänge nicht. Die zwei Gleise und der Tunnel waren kein passender Ort, um jemandem zufällig eine Mitfahrgelegenheit anzubieten. Das Ganze machte nur Sinn, wenn die beiden eine Verabredung hatten. Wenn Catherine Thomsen freiwillig zu Andreas Falkenborgs Auto gegangen war, in dem er auf sie gewartet hatte.
Im Zug zurück nach Kopenhagen malte Pauline Berg sich die Szene in Gedanken aus. Sie stellte sich vor, wie die junge Frau durchnässt und gebückt gegen den Wind zu Andreas Falkenborgs Saab hastete. Hatte er sich zur Seite gelehnt und ihr die Beifahrertür geöffnet, als er sie kommen sah? Ja, bestimmt hatte er das.
Schön, dich zu sehen, was für ein Wetter, im Handschuhfach sind ein paar trockene Tücher.
Ihr Weg ins Leichenschauhaus war mit Freundlichkeiten gepflastert gewesen. Nein, er
baute auf Freundlichkeit,
passte besser. Und wie war ihre Fahrt verlaufen? Pauline Berg träumte weiter, und sie durchlief ein wohliger Schauder. Sie liebte ihren Job.
Im Hauptbahnhof von Kopenhagen rief sie Konrad Simonsen an und informierte ihn über ihre Schlussfolgerung. Ihr Chef war interessiert, bei weitem aber nicht so enthusiastisch wie sie selbst. Trotzdem hatte er sie motiviert, in dieser Richtung weiterzuermitteln. Das reichte ihr. Immerhin hatte sie gerade Konrad Simonsen am Wochenende angerufen, als wäre nichts dabei, genau wie Poul Troulsen, die Comtesse und Arne Pedersen es taten, wenn sie etwas für wichtig hielten. Und sie sollte weitermachen, das hatte er ja gesagt. Einfach weitermachen.
Die Fortsetzung folgte zwei Stunden später im Gammel Torv in Kopenhagen. Tags zuvor hatte sie den Landesverband der Schwulen und Lesben Dänemarks kontaktiert und um Hilfe bei der Suche nach Catherine Thomsens
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