Das weiße Grab
irgendwie unverhältnismäßig hart bestraft?«
»Nein, das würde ich nicht sagen. Die Mutter hat ihn nie geschlagen, er war ja eher so etwas wie ihre Stütze, und der Vater hat ihm hin und wieder eine geklebt. In der Schule hat er wohl die eine oder andere Ohrfeige eingesteckt, aber auch dort ist er, glaube ich, nicht wirklich verprügelt worden. Nein, mit der Mutter war das viel schlimmer. Der Fabrikant hat sie oft geschlagen. Und anschließend musste sie immer mit einer Sonnenbrille herumlaufen. Ja, aber so etwas kennen Sie ja wohl?«
»Ja, danke. War Andreas Falkenborg dabei, wenn sein Vater gewalttätig gegen die Mutter war?«
»Ja, und ich auch. Das war dem Alten ziemlich egal, er hat einfach zugeschlagen, wenn ihm danach war. Er schrak auch nicht davor zurück, die Mutter zu verprügeln, wenn der Junge dumme Streiche gemacht hatte: Sie war für Andreas’ Erziehung verantwortlich, und wenn sie dieser Verantwortung nicht gerecht wurde, hagelte es Schläge.«
»Und wie hat sie auf die Gewalttätigkeit ihres Mannes reagiert?«
»Ja, was glauben Sie denn? Sie hat geheult und ihn angefleht.«
»Auch vor dem Jungen?«
»Klar, und hinterher musste der Junge sie dann trösten. Es ist eigentlich kein Wunder, dass auch er ein Monster geworden ist.«
»Wie stand es mit Missbrauch? Hatten Sie den Eindruck, dass Andreas Falkenborg sexuell missbraucht wurde? Von seinem Vater oder seiner Mutter.«
»Nein. Die Einzige, die in diesem Haus sexuell missbraucht wurde, war ich.«
»Und Alkohol und Drogen?«
»Keines von beidem.«
»Dann hat Alf Falkenborg seine Frau nicht im Suff geschlagen?«
»Nein, ganz und gar nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern, auch nur einen der beiden jemals betrunken gesehen zu haben. Vielleicht waren sie es irgendwann einmal, aber Alkohol spielte sicher keine Rolle in diesem Haus. Ich weiß noch, dass sie zum Essen immer Wasser getrunken haben.«
»Warum wurde Elisabeth Falkenborg geschlagen?«
Agnete Bahn dachte eine Weile nach, bevor sie antwortete. Dann sagte sie zögernd: »Eigentlich immer, wenn Andreas irgendwelchen Unsinn gemacht hatte, sonst glaube ich nicht.«
»Hat er denn oft Unsinn gemacht?«
»Nein, das kann man nicht sagen. Nein, wirklich nicht.«
»Sie sagen aber, dass sie oft geschlagen wurde?«
»Ja, das wurde sie. Mindestens einmal im Monat, aber warum, weiß ich nicht. Vielleicht hat es ihm einfach Spaß gemacht, sie zu schlagen, wer weiß? Ich habe mir nie wirklich Gedanken darüber gemacht, weder damals noch später.«
»Warum hat sie ihn nicht verlassen?«
»Keine Ahnung. Wo sollte sie denn hingehen?«
Konrad Simonsen zuckte mit den Schultern und ließ das Thema fallen. »Sie mochten Elisabeth Falkenborg nicht?«
»Ich mochte keinen von denen, weder den Mann noch die Frau oder den Sohn.«
»Warum?«
»Sie war unglaublich arrogant. Nichts, was ich gemacht habe, war ihr gut genug. Ich bezahlte immer die Zeche für die Prügel, die sie einstecken musste. Unter anderem. Und Andreas lernte schnell. Manchmal hat er mich heimlich beobachtet und aufgepasst, ob ich irgendwo beim Putzen etwas ausließ, und dann hat er es gleich seiner Mutter gesagt. Das war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen.«
»Und was ist dann geschehen?«
»Sie hat mich ausgeschimpft. Mag sein, dass das nicht so schlimm klingt, aber sie konnte mich derart demütigen, dass mir wirklich die Tränen kamen. Sie hat auch mein Äußeres peinlich genau überwacht. Ich musste immer diese Dienstmädchenkluft tragen, mit dem kleinen, bescheuerten Schürzchen vorne, und das musste den ganzen Tag sauber und frisch gebügelt sein, auch wenn ich es schon acht Stunden trug. Ich sage Ihnen, das war schlichtweg unmöglich. Und meine Haare mussten säuberlich hochgesteckt sein. Auch das hat sie überprüft.«
»Wie war es mit Make-up?«
»Das war verboten.«
»Und Nagellack?«
»Auch. So etwas gab es ganz einfach nicht.«
Konrad Simonsen versuchte es mit einer Pause und hoffte darauf, dass dadurch Assoziationen bei der Frau geweckt wurden, und tatsächlich fuhr Agnete Bahn fort: »Und mit meinen Nägeln war sie vollkommen hysterisch. Sie mussten kurz geschnitten und sauber sein. Ich musste sie sehr oft vorzeigen. Das ist eine der Sachen, an die ich mich am besten erinnere. Ich musste antreten, mich vor diese Frau stellen und ihr meine gespreizten Finger hinhalten, damit sie sie begutachten konnte. Sie glauben gar nicht, wie erniedrigend das war.«
»Hat sie Ihnen Ihre Nägel geschnitten, wenn sie
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