Das weiße Grab
Gründe gab es nicht?«
»Nein.«
Konrad Simonsen hielt ihrem Blick stand.
»Und da sind Sie sich ganz sicher?«
Sie zögerte und fragte resigniert: »Sie haben mit den anderen Dienstmädchen gesprochen, nicht wahr?«
»Ja.«
»Irgendwann bin ich einmal per Zufall auf eine andere Frau gestoßen, die auch bei denen angestellt war. Erstaunlicherweise meine Vorgängerin, und die hatte genau das Gleiche ertragen müssen wie ich. Auf diesen Gedanken bin ich damals gar nicht gekommen. Noch Jahre danach habe ich davon geträumt, ihn umzubringen oder ihm mindestens eine ordentliche Syphilis anzuhängen – so etwas sollte ja nicht undenkbar sein. In Gedanken träumte ich davon, dass er sie an seine Frau weitergab, obwohl … dazu wäre es wohl nie gekommen. Es blieb aber bei dem Gedanken, ich habe ihn nicht umgebracht.«
»Das wissen wir.«
»Manchmal ärgert es mich, dass ich das nicht getan habe. Auch noch so viele Jahre danach. Er hätte es verdient, dieser alte, dieser … Wüstling. Verstehen Sie?«
»Ja, sicher. Aber lassen wir die Geschichte etwas ruhen. Wir kommen später darauf zurück. Können Sie mir erzählen, wie der Alltag der Familie Falkenborg aussah? Sie sagten, Elisabeth Falkenborg sei unterjocht gewesen, und Sie haben die ganze Familie als schrecklich bezeichnet. Wäre es Ihnen möglich, ein bisschen zu vertiefen, was Sie da erlebt haben?«
Überraschenderweise überhörte Agnete Bahn die Aufforderung, und was sie dann sagte, kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel: »Ich weiß ganz genau, warum dieser Typ eine Maske trägt, wenn er die umbringt. Wenn Andreas Falkenborg dieses Tier ist, dann ist mir das vollkommen klar.«
Konrad Simonsen richtete sich auf und sagte scharf: »Maske? Ich habe doch gar nichts von einer Maske gesagt.«
»Nee, aber das steht auf der Homepage der Zeitung
Dagbladet,
die ich gerade gelesen habe. Das wird morgen bestimmt dicke Schlagzeilen geben. Der Journalist hat mit einem Mädchen gesprochen, deren Mutter mal von diesem Psychopathen überfallen worden ist. Oder war das ihre Großmutter? Aber das mit der Maske passt wirklich perfekt … wahrscheinlich bin ich die Einzige, die das weiß, sieht man mal von Andreas Falkenborg selbst ab.«
Für Konrad Simonsen waren das sowohl gute als auch schlechte Neuigkeiten. Auf jeden Fall musste er sofort mit dem Präsidium telefonieren. Er erreichte Poul Troulsen, unterrichtete ihn über die Situation, bat ihn, das durch das Leck entstandene Risiko einzuschätzen und Jeanette Hvidt allenfalls Personenschutz zu geben. Zu guter Letzt nutzte er die Gelegenheit, die Blockade des Bordells aufzuheben. Agnete Bahn, die sein ganzes Gespräch interessiert verfolgt hatte, entblößte ihre viel zu weißen Zähne zu einem breiten Lächeln, als sie hörte, dass ihr Geschäft für den Rest des Tages wieder mit normalem Umsatz rechnen konnte. Das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht, kaum dass er aufgelegt hatte und sagte: »Denken Sie daran, dass ich die Sache jederzeit widerrufen kann, und dann sind die in zehn Minuten wieder hier.«
Sie akzeptierte seine Ermahnung ohne sichtliche Verärgerung: »Ich halte meinen Teil der Abmachung.«
»Das klingt gut. Was die Maske angeht, von der Sie gesprochen haben, so können Sie sich ja denken, dass die Presse das nicht einfach erfunden hat. Ich bin wirklich sehr an diesem Thema interessiert, trotzdem würde ich die Dinge gerne der Reihe nach ansprechen.«
»Okay, aber dann wiederholen Sie bitte Ihre Frage noch einmal. Die habe ich vergessen.«
»Erzählen Sie mir, wie es bei den Falkenborgs war. Wie haben Sie die Tage dort erlebt?«
»Also, erst einmal hat Alf Falkenborg alles bestimmt. Außer ihm hatte niemand etwas zu sagen. Häufig war es ihm aber auch egal, wie die Dinge zu Hause liefen, nur dass man das bei ihm eben nie wissen konnte. An einem Tag musste Andreas antreten und alles von seinen Pfadfinderausflügen erzählen, welche Prüfungen er bestanden hatte und welche er noch machen musste, wie viel Kilometer er gelaufen war, ohne zu jammern, und so weiter und so fort, und am nächsten Tag war ihm all das vollkommen egal, da hat er den Jungen total übersehen.«
»Das klingt nicht gerade gesund für den Kleinen.«
»Sicher nicht, das war wirklich übel für ihn, aber das habe ich damals nicht gesehen. Wenn ich die Wahrheit sagen soll, habe ich mich damals gefreut, wenn sein Vater ihn sich vorgeknöpft hat. Ich konnte diesen Jungen einfach nicht leiden.«
»Wurde er verprügelt oder sonst
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