Das weiße Grab
Maryann Nygaard, Annie Lindberg Hansson und Catherine Thomsen waren alle eine Kopie von Agnete Bahn.
»Auf dem Foto war ich einundzwanzig. Das ist an meinem Geburtstag aufgenommen worden.«
»Wunderbar, ich danke Ihnen.«
»War ich nicht hübsch?«
Ihre Stimme, die vorher so sachlich und fest gewesen war, hatte mit einem Mal einen verspielten Klang, und zu allem Überfluss spürte Konrad Simonsen auch noch ihre Hand auf seinem Oberarm, so dass ihm ein Schauer über den Rücken lief und er zusammenzuckte.
»Doch, doch, sehr.«
Das Kompliment reichte ihr allem Anschein nach nicht, denn sie seufzte und sagte: »Egal wo, ich war immer die Schönste.«
Er konnte sich nicht aufraffen, ihr Äußeres zu loben. Er schaltete das Diktiergerät ein, das er ausgemacht hatte, als sie auf den Dachboden gegangen war, und sagte trocken: »Tja, die Jahre gehen an niemandem spurlos vorbei.«
Sie gab auf und verfiel wieder in ihre alte Gemütsverfassung.
»Machen wir weiter?«
»Ja, können Sie sich in etwa daran erinnern, wann Sie bei Fabrikant Falkenborg eingestellt worden sind?«
»Ich war von 1964 bis 1965 da. Angefangen habe ich gleich nach dem Ende der Sommerferien, das muss also im August gewesen sein. Aufgehört habe ich gut ein Jahr später an einem glücklichen Oktobertag.«
»Was haben Sie dort gemacht?«
»Hausmädchen nannten die das damals, glaube ich.«
»Sie sagten,
an einem glücklichen Oktobertag,
hat es Ihnen dort nicht gefallen?«
»Nein.«
Mehr schien sie nicht darüber sagen zu wollen, und Konrad Simonsen nutzte die Gelegenheit, um ihr noch einmal die Rahmenbedingungen ihres Gesprächs klarzumachen: »Es reicht nicht, dass wir miteinander reden, ich verlange auch eine gewisse Portion Entgegenkommen von Ihnen, was Ihre Antworten angeht. Ich frage Sie deshalb noch einmal: Hat es Ihnen dort nicht gefallen?«
Er machte eine rollende Handbewegung, die ihr zu verstehen geben sollte, dass nun sie an der Reihe war. Mit Erfolg.
»Nein, ganz und gar nicht. Das war eine schreckliche Familie, durch und durch verkommen wie ein Tripper. Alf Falkenborg war ein Arschloch, seine Frau … ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wie dieser Drachen hieß …«
»Elisabeth Falkenborg.«
»Ja, stimmt. Sie war eine unterjochte Hexe, die mir immer mit Argusaugen hinterhergeschlichen ist, um etwas an meiner Arbeit aussetzen zu können, und Andreas war ein kleiner Drecksbengel, dem man ständig eine hätte kleben können und dem man mindestens einmal in der Woche den Arsch versohlen hätte müssen.«
»Sie tragen aber dick auf.«
»Ich halte mich sogar noch zurück, es ist wirklich die Wahrheit. Ach, was sage ich, das war noch viel schlimmer – diese Leute, das waren echt Arschlöcher, die auf alles und jeden geschissen haben, sich selbst eingeschlossen.«
»Könnten Sie sich ein bisschen weniger blumig ausdrücken?«
»Was zum Henker meinen Sie denn damit?«
»Fluchen Sie einfach nicht so viel.«
»Warum, ist Ihnen das unangenehm?«
Konrad Simonsen versuchte gar nicht erst, ihr lang und breit zu erklären, dass eine mit Kraftausdrücken gespickte Zeugenaussage in gewissen Kreisen als nicht vollwertig angesehen wurde und den Blick von dem Wesentlichen, nämlich dem Wahrheitsgehalt der Aussage, ablenkte. Schon vor langer Zeit hatte er seinen Glauben daran verloren, dass Form und Inhalt vor Gericht tatsächlich komplett voneinander getrennt waren. Es mochte ja sein, dass Frau Justitia blind war, taub war sie aber sicher nicht, und irgendwann würde ein Ausdruck dieser Zeugenaussage schließlich auch in den Händen von Andreas Falkenborgs Verteidiger landen.
Er gab ihr die Kurzversion.
»Ja.«
»Ich werde es versuchen.«
»Danke, das wäre wirklich nett. Warum haben Sie nicht gekündigt, wenn Sie so unzufrieden mit den dortigen Verhältnissen waren? Sie hätten doch auch einfach abhauen können. Was hätten die schon tun sollen?«
»Meine Mutter war in Alf Falkenborgs Fabrik angestellt, sie hätte gefeuert werden können. Das wäre typisch für dieses Schwein gewesen … äh, entschuldigen Sie, aber das war er wirklich. Es hätte ganz seinem Denken entsprochen, sie dafür büßen zu lassen, wenn er mich nicht mehr kriegen konnte. Ich zweifle wirklich nicht daran, dass er das getan hätte, aber beweisen kann ich das natürlich nicht.«
»Sind Sie nur deshalb geblieben?«
»Ja, und wegen des Lohns natürlich. Der war gut. Überraschend hoch, obwohl … na ja, aber Geld hatten sie ja auch genug.«
»Andere
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