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Das Weisse Kleid Des Todes

Das Weisse Kleid Des Todes

Titel: Das Weisse Kleid Des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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nicht besonders gut aussehend, trug kein Make-up und hatte die Haare von undefinierbarem Dunkelblond zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie besaß dieses überzüchtete Aussehen, das er im Geiste immer mit reichen Frauen aus dem Norden der Stadt verband: hohe Wangenknochen und eine lange, schmale Nase, die den arroganten Eindruck noch verstärkten. Mark hielt Russ grinsend am Arm fest. »Nein, nein, Chef. Das ist die Pastorin von St. Alban’s«, erklärte er und brach bei Russ’ Gesichtsausdruck in Gelächter aus. Die Pastorin? Eine Frau als Priester? Heiliges Kanonenrohr! Sie schenkte Russ einen Blick, der besagte: Irgendwas dagegen? Er fühlte, wie er rot anlief. Diese Augen waren das einzig wirklich Besondere an ihr: rein, klar und haselnussbraun wie Granit in grünem Wasser.
    »Officer Durkee«, sagte sie, während ihr Blick von Russ abschweifte, als hätte sie ihn gewogen und als zu leicht befunden. »Schon irgendetwas Neues vom Jugendamt?« Ein Hauch von Südstaatenakzent lag in ihrer nüchternen Stimme.
    »Nein, Ma’am.« Mark wippte auf seinen Absätzen. »Aber etwas anderes war auch nicht zu erwarten. Die stecken dort bis zum Hals in Arbeit und sind unterbesetzt.« Er grinste immer noch wie ein Honigkuchenpferd.
    Russ entschied, dass Angriff die beste Verteidigung sei. »Ich bin Russel Van Alstyne, Chef der Polizei hier in Millers Kill.« Er streckte eine Hand aus. Die Frau drückte sie wie ein Mann.
    »Clare Fergusson, die neue Pastorin von St. Alban’s, der Episkopalkirche Ecke Elm und Church Street.« Etwas Gereiztes lag in ihrer Stimme. Russ entspannte sich ein klein wenig. Eine Pastorin. Heiliger Strohsack!
    »Ja, kenn ich. Es gibt ja nur vier Kirchen in der Stadt«, antwortete er, während seine Brille wieder beschlug. Er nahm sie rasch ab und suchte nach einem Papiertaschentuch. »Können Sie mir sagen, was passiert ist, äh …« Wie redete man so eine Frau an? »Mutter?«
    »Der korrekte Titel ist Reverend, Chief. Aber Mistress geht auch.«
    »Oh. Tut mir leid. Ich bin noch nie einem weiblichen Priester begegnet.«
    »Wir sind genauso wie die männlichen, nur dass wir uns als Autofahrer nicht scheuen, anzuhalten und nach dem Weg zu fragen.«
    Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. In Ordnung. Dann würde er sich vor ihr nicht wie ein ungewaschener Atheist fühlen.
    »Ich verließ die Kirche durch den Hintereingang. Diese Tür liegt unterhalb der Straßenhöhe. Eine Treppe führt von dort aus zu einem Parkplatz zwischen der Kirche mit dem Pfarrzentrum und dem Pfarrhaus, ein ganz kleiner, enger Platz, gerade groß genug für zwei, drei Wagen. Ich hatte vor zu joggen.« Sie sah auf ihre turnschuh-bekleideten Füße hinab und wackelte mit einem. Auf ihrem Sweater stand Army. »Der Karton lag auf den Stufen. Zuerst dachte ich: Vielleicht hat jemand eine Spende deponiert; ich sah nämlich nichts außer Wolldecken. Als ich den Karton dann aber hochhob, merkte ich, dass etwas darin verrutschte.« Sie sah durch die Plastikscheibe des Brutkastens und schüttelte den Kopf. »Das arme Kind war so regungslos, als ich es auspackte … Ich dachte schon, es wäre tot.« Sie blickte zu Russ auf. »Stellen Sie sich vor, wie verzweifelt jemand sein muss, der ein Baby bei so einer Kälte aussetzt.«
    Russ grunzte. »Irgendwas, das uns Aufschluss geben könnte, wer es dort deponiert hat?«
    »Nein. Nichts außer dem Baby selbst, den Decken und dem Brief, der darin steckte.«
    Russ sah mit einem Stirnrunzeln zu Mark. »Sie haben nichts von einem Brief gesagt.«
    Schulterzuckend zog der Officer eine Klarsichthülle aus seiner Jackentasche. »Reverend Fergusson hat ihn erst nach meinem Funkspruch erwähnt.« Er reichte Russ die Hülle mit dem Brief.
    »Ja, das war meine Schuld«, bestätigte die Pastorin, auch wenn es nicht im Geringsten wie eine Entschuldigung klang. Russ hielt die Klarsichthülle auf Armeslänge von sich, um sie besser begutachten zu können. »Ich habe das Jugendamt erst verständigt, als ich schon hier war. Ich wollte, dass man über die Absichten der Eltern genau Bescheid weiß.« Sie sah über seinen Arm hinweg auf den Brief. »Tut mir leid. Ich hab nicht auf Fingerabdrücke und dergleichen geachtet.«
    Es handelte sich um ein achtzehn mal elf Zentimeter großes Blatt aus einem Spiralblock, wie man ihn an jeder Ecke bekam, und die Handschrift glich der eines Kindes: breit, krakelig und in blauer Tinte. Russ schätzte, die Verfasserin hatte ihren Füller mit der Linken gehalten, um ihre

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