Das weiße Krokodil
Krokodils auf, und es war sicherlich gut, daß es seine Worte nicht verstand, da an diesem Tage nur wirre Sätze über seine Lippen kamen, zusammenhanglose Gedankenfetzen, die seine Zerrissenheit widerspiegelten und deutlich machten, daß er Yen-sun nur noch wenig Glauben schenkte. Er mißtraute ihm wie nie zuvor, und die Vorstellung, in mancherlei Hinsicht belogen worden zu sein, war ihm so schrecklich, daß er den Himmel anflehte, ihn mit Blindheit zu schlagen, wenn die Wahrheit unerträglich werden sollte.
Aber wie unklar im Augenblick auch alles war, es befreite den greisen Tie-tie, seine Gedanken und Befürchtungen wie Abfall über Bord werfen zu können.
Später, als er merklich erholt zur Pagode zurückkehrte, schloß er die Kinder so inbrünstig in die Arme, daß es aussah, als wolle er sich für immer von ihnen verabschieden.
»Schläft das Krokodil jetzt?« fragte das Mädchen mit gedämpfter Stimme.
Tie-tie nickte.
»Und was hast du ihm erzählt?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Aber ich habe eben darüber nachgedacht, was ich euch erzählen könnte, und es ist mir eine Geschichte eingefallen, die euch erfreuen und eurem Vater hoffentlich etwas sagen wird.«
Yen-sun blinzelte verstohlen zu seinen Kameraden hinüber.
»Zunächst muß ich jedoch noch einige Fragen an euch richten«, fuhr Tie-tie fort. »Wißt ihr eigentlich, was Schnee ist?«
»Wir haben schon welchen gesehen«, antwortete der Junge voller Stolz. »Auf dem Kedah Peak. Papa hat uns mit dem Auto hinaufgefahren.«
»Gab es dort oben vielleicht auch Eiszapfen?«
»Nur ganz kleine. Papa hat aber gesagt, daß es auch große gibt.«
»Ja, wenn es lange kalt ist, können Eiszapfen riesengroß werden«, bestätigte Tie-tie. »Und nun kommt meine letzte Frage: Hat euer Vater euch erklärt, wodurch Schnee entsteht?«
»Nein.«
»Dann will ich es euch sagen und meine Geschichte damit beginnen. Also, wenn die Sonne das Wasser der Flüsse, Seen und Meere erwärmt, dann verdunstet ein Teil und steigt in die Höhe wie der Dampf, der aus den Töpfen und Kesseln eurer Mutter entweicht. Hoch oben in der Luft nun, wo es viel kälter ist als am Boden, geschieht etwas Wunderbares: aus dem Wasserdampf, der in Form von Wolken am Himmel entlangzieht, werden mit der Zeit Tropfen, die als Regen auf die Erde herabfallen und dafür sorgen, daß unsere Felder, Wiesen und Wälder nicht verdorren. Im Winter jedoch, wenn es sehr kalt ist, verwandeln sich die frierenden Regentropfen in zarte Schneeflocken, die langsam herabschweben und alle Pflanzen einhüllen, um sie vor übergroßer Kälte zu schützen.«
»Woher wissen die Tropfen, daß sie Schneeflocken werden müssen?« fragte der Junge verwundert.
»Vom Allmächtigen, der sich um alles kümmert und immer dafür sorgt, daß es uns gut geht«, antwortete Tie-tie.
Der Junge rückte näher an ihn heran.
»Nun gab es aber einmal einen Wassertropfen, der mit seinem Schicksal haderte. Er war wohl schon an die tausendmal in der Sonne verdampft und als Dunst zum Himmel emporgestiegen, und ebenso oft war er in der Höhe zu einem Regentropfen geworden; nie jedoch war es ihm gelungen, eine Schneeflocke zu werden. Das grämte ihn in hohem Maße und ganz besonders, weil er auch sonst wenig Glück hatte. So wünschte er sich seit langem, einmal in eine Stadt zu fallen, um das Leben der Menschen kennenzulernen. Er klatschte aber stets nur auf Dinge herab, die er zur Genüge kannte: auf Felsen, Bäume, Wiesen und Wege. Mehrfach fiel er sogar direkt in einen See hinein, was ihn richtig wütend machte. Und als solches wieder einmal geschah, da flehte er in seiner Verzweiflung den Himmel an, ihn wenigstens ein einziges Mal in eine Schneeflocke zu verwandeln.
Der Allmächtige erhörte seine Bitte, und so kam es, daß unser Wassertropfen bald darauf aufs neue verdunstete und in eine Wolke geriet, die in ein weit entferntes, bitterkaltes Land zog. Und hier ging sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung. Er verspürte plötzlich einen Druck, der ihn zum Regentropfen machte, dann fiel er aus der Wolke heraus, erstarrte dabei in der ihn umgebenden Kälte, wurde leichter und leichter und war mit einem Male ein duftiges, herrlich weißes Gebilde, das schwerelos dahinschwebte.
Eine Schneeflocke war geboren, und sie beeilte sich, ihr neues Dasein zu genießen, das sich stark von dem eines einfachen Regentropfens unterschied. Sie mußte nicht auf schnellstem Wege auf die Erde hinunterrasen; sie war ja
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