Das weiße Mädchen
Striche deutete das im Bau befindliche Sparrendach an. Ein Stück abseits des Hauses schließlich war ein Punkt markiert, über den Zirner »Sickergrube« gekritzelt hatte.
Ich muss mir Gewissheit verschaffen,
dachte Lea und ließ den Ordner sinken.
Auf der Stelle.
Ihren Wagen konnte sie nicht benutzen. Wie lange mochte es dauern, bis sie zu Fuß die Waldlichtung erreicht hatte?
Egal,
beschloss sie.
Es duldet keinen Aufschub.
Sie ließ keine Nachricht zurück. In ihrer Eile brauchte sie kaum eine halbe Stunde, um die Strecke bis zum Ortsausgang und schließlich bis zu der Abzweigung zurückzulegen, wo der alte Wirtschaftsweg in den Wald führte. Mittlerweile musste es gegen acht Uhr sein, denn es begann zu dämmern. Der Wald zu beiden Seiten der Straße verschmolz bereits zu einer dunklen Wand. Lea kümmerte sich nicht darum. Ihre Beine fühlten sich zittrig an, doch sie zögerte nicht, als sie den überwachsenen Weg einschlug, der zu der kleinen Lichtung führte.
Die niedrige Hausruine mit ihren unregelmäßig abgetragenen Mauern lag wie ein groteskes Tiergerippe unter dem dämmrigen Himmel. Lea pirschte sich durch dichtes Gebüsch bis zur östlichen Seitenwand heran, den Blick zu Boden gerichtet, um den Gruben auszuweichen, die von Tom Thanatar stammten. Jahrelang hatte er gegraben, an dieser und jener Stelle gesucht – doch all seine Mühen waren vergeblich gewesen, denn die entscheidende Information hatte ihm gefehlt. Lea zog den Lageplan aus derTasche, den sie aus Rudolf Zirners Ordner entwendet hatte. Noch einmal studierte sie die Details, die er mit Bleistift hinzugefügt hatte.
Sickergrube … ostseitig in sechs Meter Abstand vom Haus.
Lea schritt die Entfernung ab, den Plan in der Hand: zwölf Schritte bei einer durchschnittlichen Schrittlänge von fünfzig Zentimetern. Sie blieb stehen, senkte den Blick, ging in die Knie und suchte zwischen den Farnwedeln am Boden. Nichts deutete darauf hin, dass sich an dieser Stelle etwas anderes befand als gewöhnliche Walderde.
»Verfüllung meines Erachtens nicht nötig
«
, erinnerte sie sich an Zirners Inspektionsbefund.
»Überdeckung mit vorhandener Erde genügt
.
«
Lea begann zu scharren, erst zaghaft, dann entschlossener, schließlich mit einer an Besessenheit grenzenden Kraft. Sie riss die Farnbüschel aus, nahm einen herumliegenden Stock zur Hilfe, um die Wurzelballen herauszuhebeln, und grub schließlich ihre Finger in die nackte Erde. Dass ihre Kleider schmutzig wurden, nahm sie ebenso wenig zur Kenntnis wie das zunehmende Schmerzen ihrer Schultern. Wie ein Hund, der einen vergrabenen Knochen sucht, hockte sie auf allen vieren am Boden und warf Hände voller Erde um sich.
Ein Schauder durchfuhr ihren Körper, als ihre Fingernägel über eine raue Oberfläche kratzten. Mit zusammengekniffenen Augen beugte sie sich hinab, um in der Dämmerung zu erkennen, auf welches Hindernis sie gestoßen war.
Ein Stein?
Sie tastete. Ja, es war eine steinerne Oberfläche, kaum zwanzig Zentimeter tief unter dem Boden, jedoch von regelmäßig gerundeter Form. Lea scharrte weiter undstellte fest, dass sie den Rand eines steinernen Deckels entdeckt hatte, kaum größer als das Steuerrad eines Autos. Rasch legte sie die Umrandung frei, wischte Erde von der Platte und fand eine konkave Aussparung, die offensichtlich als Griff diente. Als sie eine Hand hineinschob, um den Deckel emporzuwuchten, hielt sie beinahe erschrocken inne.
Willst du das wirklich tun?,
fragte sie sich.
Willst du wirklich diese Abdeckung öffnen und in eine seit Jahrzehnten verschlossene Klärgrube hinabblicken?
Doch ihre Hände handelten, bevor sie noch weiter darüber nachdenken konnte. Sie packte zu und zog. Mit einem eigentümlich schmatzenden Geräusch löste sich der Steindeckel von seiner Einfassung und schrammte knirschend über deren Rand. Lea wuchtete ihn ins Gras zur Linken, ließ ihn los und hielt einen Moment schweratmend inne. Dann erst wandte sie sich der Öffnung zu, die sie freigelegt hatte: einem senkrechten Schacht, dessen Einfassung von einem Stahlzylinder gebildet wurde. Im ersten Augenblick sah sie nur ein schwarzes Loch, ohne im Innern irgendetwas erkennen zu können. Vorsichtig, den Oberkörper auf beide Hände gestützt, beugte sie sich vor.
Noch bevor sie etwas sehen konnte, schlug ihr ein fauliger, Übelkeit erregender Geruch entgegen. Dann erkannte sie, dass der gesamte Schacht bis auf wenige Zentimeter unterhalb der Einfassung mit Schlamm gefüllt war.
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