Das weiße Mädchen
glaubte er an einen makabren Streich seiner Fantasie. Aber er hat es nie vergessen. Irgendwann ist ihm klar geworden, dass es keine Einbildung war. Er ist nach Verchow zurückgekehrt, um in der Umgebung des Hauses zu graben – immer wieder, an unterschiedlichen Stellen –, weil er überzeugt ist, dass sie dort irgendwo unter der Erde liegt. Und zugleich kostümiert er sich als Christines Geist, erscheint nachts an der Straße und führt Autofahrer, die anhalten, zu dem verlassenen Haus. Das ist der Grund, warum er sich auf dem ehemaligen Anwesen der Herforths eingenistet hat: Er sucht nach Christine – und er will andere auf sein Anliegen aufmerksam machen, die Erinnerung an ihr Verschwinden lebendig halten und auf den Ort hinweisen, wo er ihre Leiche vermutet.
Warum geht er dann nicht einfach zur Polizei?,
fragte die skeptische Stimme in ihrem Inneren.
Warum teilt er seinen Verdacht nicht auf verständlichere Weise mit?
Weil er stumm ist
, antwortete Lea sich selbst.
Stumm und psychisch schwer gestört, wahrscheinlich infolge der damaligen Ereignisse – und vielleicht auch, weil er sich vor jemandem fürchtet, der auf keinen Fall seine Identität erfahren darf. Statt seine Ahnungen in Worten auszudrücken, teilt er sie in einer surrealen Bildersprache mit, nämlich durch die Zeichnungen in seinen Comics. Vielleicht ist das die einzige Möglichkeit, die ihm zur Verfügung steht, um andere an seinen Gedanken teilhaben zu lassen.
Aber warum hat er Christine nie gefunden, wenn er den Tatort kennt?,
fragte die Stimme.
Doch auch darauf wusste Lea plötzlich eine Antwort. Der Traum der vergangenen Nacht fiel ihr wieder ein – jener kurze, scheinbar so harmlose Traum, dem sie keine Bedeutung beigemessen hatte.
»Es gibt keine flächendeckende Kanalisation, und auf vielen abgelegenen Grundstücken müssen eigene Sammelbecken gebaut werden.«
Tom Thanatar hatte Christine nicht gefunden, denn er wusste nicht, dass es einen unterirdischen Hohlraum auf dem Gelände gab, der einer Gefangenen – zumindest für einige Stunden – das Atmen ermöglichte.
Leas Handy piepte und meldete eine SMS von Kai. Sie überflog den Text nur kurz:
Wir gehen noch essen. Kommen wahrscheinlich nicht vor halb neun zurück. Hoffe, dir geht es gut. Unternimm nichts, bevor ich zurück bin!
Leas Blick flog zur Uhr über der Küchenzeile: kurz vor sieben. Das gab ihr genug Zeit, dem Verdacht nachzugehen, der sich eben erst in ihrem Kopf geformt hatte. Eilig verließ sie die Wohnung, stieg ins obere Stockwerk hinauf und betrat Kais Zimmer. Rudolf Zirners Ordnungssinn erleichterte ihre Aufgabe. Die Aktenordner auf dem Regal waren sorgfältig beschriftet. Lea griff nach einemOrdner, dessen Aufschrift »Inspektionen 1978 - 86« lautete. Es dauerte nicht lange, bis sie gefunden hatte, was sie suchte: einen mit mechanischer Schreibmaschine getippten Bericht.
Flurstück Verchower Landstraße KS 35
Liegenschaftskataster N. 2947/a/1952 Gemeindeeigentum Unrechtmäßige Inbesitznahme (»Instandbesetzung«) mutmaßlich März/April 1980. Anzeige durch H. Heimberger 10. 8. 1980. Vier auf dem Grundstück angetroffene Personen wurden vorläufig festgenommen.
Inspektionsbefund:
Illegale Ausbaumaßnahmen an ruinösem Hauskörper durch Erhöhung der Außenmauern, Einziehung von Zwischenwänden und Anlage eines primitiven Sparrendachs. Nordseitige Anschichtung eines Kamins aus Bruchsteinen mit Kalkmörtel (Hö he 2,30 m). Ostseitig in 6 m Abstand vom Haus Ausschachtung einer Sickergrube mit Steindeckel zur Abwasserentsorgung (Tiefe 1,80 m, Durchm. 0,60 m).
Erforderliche Maßnahmen:
Abriss von Dach und Wänden, um zukünftige illegale Bewohnung auszuschließen. Abtragung des Kamins zur Vermeidung einer unbefugten Nutzung als Feuerstelle (Brandschutzgutach ten !). Verfüllung der Sickergrube meines Erachtens nicht nötig, Schließung und Überdeckung mit vorhandener Erde genügt.
12. 8. 1980
R. Zirner
Beigefügt war ein Plan des Grundstücks auf Kopierpapier. Lea nahm an, dass das Original aus dem Grundbuchregister stammte. Die Umrisse des Hauses waren deutlich zu erkennen, ebenso der Zufahrtsweg. Rudolf Zirner hattemit Bleistift die baulichen Veränderungen eingezeichnet, die die Hausbesetzer in den achtziger Jahren vorgenommen hatten: An einer Giebelseite des Grundrisses war ein Halbkreis gezogen, daneben stand in Zirners Handschrift das Wort »Kamin«. Eine Gruppe paralleler
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