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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Das war kaum erstaunlich: Vermutlich war das Sickerrohr nach unten offen, und mit der Zeit war Grundwasser in seinem Innern aufgestiegen und hatte lockere Erde mitgeführt. Außerdem gab es gewiss ein zuführendes Rohr von der ehemaligen Toilette im Haus, durch das Regenwasser eingeschwemmt wurde. Schließlich war das Dach schon vor Jahrzehnten abgerissen worden.
    Also gut,
sagte sich Lea.
Du hast die Grube gefunden, jetzt kannst du nach Hause fahren und die Polizei rufen, damit sie ausgepumpt wird. Vielleicht findet man Spuren – vielleicht auch nicht. Dein Verdacht könnte schließlich falsch sein. Schlimmstenfalls blamierst du dich bis auf die Knochen, und die Leute im Dorf werden dich für eine Hysterikerin halten.
    Noch während sie nachdachte, streckte sie langsam eine Hand aus. Ihre Fingerkuppen berührten die Oberfläche der schlammigen Substanz. Sie war überraschend fest, fast wie Gelee.
    Bist du wahnsinnig?,
versuchte sie sich selbst zur Vernunft zu rufen.
Das ist eine Klärgrube, die seit Jahrzehnten vor sich hin modert. Bestimmt ist sie voll von Bakterien oder von krank machenden Schimmelsporen.
    Ihre Finger durchbrachen die Oberfläche, tauchten in den Schlamm ein, senkten sich weiter hinab wie eine Sonde, die in unbekannte Meerestiefen vorstieß. Bis zum Handgelenk drang sie in die zähe Masse ein, dann bis zum Unterarm, der sich bei der Berührung mit einer Gänsehaut bedeckte.
    Das ist doch sinnlos! In dem Bericht stand, dass der Schacht fast zwei Meter tief ist. Wie weit willst du gehen – bis zum Ellbogen? Bis zur Schulter?
    Sie wollte eben innehalten und die Hand zurückziehen, als sie fühlte, wie ihre Finger die geleeartige Masse durchstießen und Wasser erspürten. Offensichtlich hatte der Schlamm nur eine festere Schicht im oberen Bereich der Röhre gebildet. Lea bewegte tastend die Finger. Irgendetwas Dünnfädiges schwamm in dem Wasser, vielleicht Algen oder totes Gestrüpp. Es fühlte sich seltsam an – fremdartig, nicht wie irgendetwas, das sie dort erwartet hätte. Sie überwand sich, zuzugreifen und zu ziehen.
    Plötzlich brach die Schlammschicht mit einem schmatzendenGeräusch auseinander und zerfiel in einzelne Fladen, die wie Eisschollen auf der Oberfläche schwammen. Ein übel riechender Hauch wehte Lea ins Gesicht, als wäre eine Gasblase geplatzt, und sie zog erschrocken die Hand zurück.
    Was ist das? Mein Gott, was ist das?
    Sie überwand sich, die Hand vor die Augen zu halten, um zu erkennen, was sich um ihre Finger gewickelt hatte. Es war eine Art Geflecht, schwarz und unangenehm schleimig, wie in Seife getaucht, doch offensichtlich aus einzelnen Fäden bestehend.
    Haare. Es sind Haare.
    Mit einem erschrockenen Aufschrei schüttelte sie die Hand, bis die schleimige Masse sich löste und als unförmiger Klumpen im Gras landete. Dann erst bemerkte sie, dass aus der Tiefe der Grube etwas emporgestiegen war, die Schlammfladen durchstoßen hatte und nun knapp unterhalb der Oberfläche trieb: eine helle Kugel, selbst im Zwielicht deutlich zu erkennen, wie der Vollmond hinter einem Schleier dunkler Wolken. Die Kugel pendelte sacht in ihrem Wasserbad, drehte sich ein Stück zur einen Seite, dann zur anderen. Ein Wulst an der Seite wurde erkennbar – der Knochenbogen über einer Augenhöhle.
    Diesmal erschrak Lea nicht. Selbst Abscheu und Furcht lösten sich auf, und in ihrem Innern blieb nichts zurück als eine überwältigende Trauer. Unvermittelt spürte sie, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten.
    »Christine?« Ihre Stimme klang eigenartig in der umgebenden Stille.
    Der Schädel bewegte sich nicht mehr. Er schwebte reglos zwei Finger breit unter der Wasseroberfläche.
    »Es tut mir so leid«, flüsterte Lea. »So leid   …«
    Minutenlang blieb sie auf Knien vor dem offenen Schacht sitzen, presste die saubere linke Hand an ihreWange und weinte wie ein Kind. Es schien ihr, als wäre sie plötzlich wieder jung, keinen Tag älter als siebzehn, und hätte eben erst vom Verschwinden ihrer Jugendfreundin erfahren.
     
    »Iris ist fort«,
hatte die Mutter gesagt, als Lea damals bei den Lukassens geklingelt hatte.
» Alle ihre Sachen sind weg.«
    Erschrocken hatte Lea die Frau angestarrt, in deren dunklen Augen Tränen standen.
    »Fort?«,
hatte sie entgeistert gefragt.
    Frau Lukassen hatte genickt, mit einem hoffnungslosen Ausdruck, der Lea einen Schauder über den Rücken getrieben hatte.
» Ich glaube nicht, dass sie zurückkommt.«
    »Aber das würde sie niemals tun!«,
hatte

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