Das weiße Mädchen
Lea aufbegehrt.
» Sie hätte es mir gesagt! Wenn überhaupt jemandem, dann mir!«
Doch Frau Lukassen hatte nur den Kopf geschüttelt und war beiseitegetreten, damit Lea hereinkommen und sich überzeugen konnte.
Lea war der Aufforderung gefolgt. Sie hatte Iris’ Zimmer leer vorgefunden. Die Stereoanlage und der kleine tragbare Fernseher waren schon seit längerem verschwunden gewesen. Lea nahm an, dass Iris die Geräte verkauft hatte, um ihre Drogen zu finanzieren. Nun jedoch war auch der Kleiderschrank leer, und selbst der rosa Plüschelefant, der immer neben dem Kopfkissen auf dem Bett gelegen hatte, war fort. Kein Abschiedsbrief, keine Nachricht, weder an die Mutter noch an sie.
Lea hatte es nicht glauben können, nicht glauben wollen – nicht einmal, als einige Tage später die Polizei bei ihren Eltern erschienen war und sie befragt hatte. Noch Wochen und Monate später hatte sie gehofft, dass Iris eines Tages anrufen, eine Postkarte schicken oder gar plötzlichvor der Tür stehen würde, in zerschlissenen Kleidern vielleicht, abgemagert und blass von den Drogen, doch lebend und unversehrt.
»Es tut mir leid, Lea«,
hätte sie vielleicht gesagt.
» Ich habe eine Dummheit gemacht. Ich hätte mich nie auf diesen Kerl einlassen dürfen, und auch nicht auf die Drogen. Vor allem aber hätte ich dich nicht zurücklassen dürfen, meine beste Freundin!«
Und Lea malte sich aus, wie sie einander in die Arme gefallen wären. Sie wäre rechtschaffen wütend gewesen, doch bereit, alles zu verzeihen und zu tun, was in ihrer Macht stand, um Iris zu helfen. Sie hätte sogar ihre Eltern gebeten, dass sie Iris aufnahmen und ihr erlaubten, den Entzug in Leas Zimmer zu überstehen. Sie wäre für die Freundin da gewesen, hätte sie versorgt, getröstet und ermutigt, Krampfanfälle und Schmerzensschreie ertragen, selbst das Erbrochene aufgewischt und das Bett täglich frisch bezogen – das Wichtigste wäre gewesen, dass sie zusammen waren.
Doch Leas Hoffnung war nie in Erfüllung gegangen. Iris war verschwunden, und erst nach Jahren und in seltenen Stunden vernünftiger Überlegung hatte Lea sich mit der Tatsache abgefunden, dass ihre Freundin wahrscheinlich längst gestorben war. Womöglich war ihre letzte Ruhestätte eine Bahnhofstoilette gewesen, wo sie sich – versehentlich oder aus Verzweiflung – eine Überdosis gespritzt hatte.
In einer Toilette zu sterben,
hatte Lea voller Grauen gedacht,
ist der schlimmste Tod, den ein Mensch wählen kann, schlimmer als selbst die grausamste schleichende Krankheit, obszön, widerwärtig. Es bedeutet: Ich bin Abfall, ein Auswurf der Gesellschaft, buchstäblich der letzte Dreck.
Auch Christine Herforth war auf diese Weise gestorben – doch nicht aus freiem Willen und nicht mit getrübtem Bewusstsein. Sie hatte geschrien. Folglich war sie noch am Leben gewesen oder zumindest aus vorübergehender Bewusstlosigkeit erwacht, als sie sich in der Sickergrube wiedergefunden hatte. Sicher war die Grube damals noch nicht mit Grundwasser gefüllt gewesen, sodass sie atmen, sich jedoch nicht rühren konnte. Da der Durchmesser des Stahlrohrs kaum sechzig Zentimeter betrug, waren ihre Arme vermutlich an die Seiten gepresst. Vielleicht war sie sogar gefesselt gewesen. Der Deckel der Grube war geschlossen und mit Erde bedeckt worden. Ihre Schreie waren stark gedämpft an die Oberfläche gedrungen, undeutlich und wie von fern. Wer immer sie gehört hatte, war nicht in der Lage gewesen, den Ursprung der unheimlichen Geräusche zu finden, sondern hatte vermutlich geglaubt, seine Sinne spielten ihm einen Streich.
Wie mochte Christine gestorben sein … und wann? Nach Minuten – Stunden – Tagen? Und wer hatte sie so sehr gehasst, dass er sie einem solchen Tod überantwortet hatte, eingepfercht in ein stockdunkles Gefängnis unter der Erde, lebendig begraben in einer Masse aus halbflüssigem Abfall, der ihr vielleicht bis zu den Knien, bis zur Hüfte oder gar bis zur Brust reichte?
Leas Finger fühlten sich taub an, als sie den schweren Steindeckel ergriff und an seinen Platz zurückwuchtete.
Polizei …
Fahrig kramte sie in der Jackentasche nach ihrem Handy. Dann erst erinnerte sie sich, dass sie sich mitten in einem Funkloch befand.
Kein Netz,
teilte das Display ihr mit.
Lea wartete einen Moment, bis sie das Gefühl hatte, dass ihre zittrigen Beine sie tragen würden. Sie erhob sich und verließ die Lichtung, um ins Dorf zurückzulaufen.
Als sie eine halbe Stunde
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