Das weiße Mädchen
nicht, wo Christine sich herumtrieb. Die Sache hatte bereits eine längere Vorgeschichte: Es gab Lehrerkonferenzen und viele Anrufe bei den Herforths, sogar die Polizei war schon eingeschaltet worden – schließlich gilt hierzulande eine gesetzliche Schulpflicht.«
»Wären Sie eventuell bereit, mir Namen und Adresse Ihrer Kollegin zu geben?«
»Das ist leider zwecklos. Frau Brenner ist schon vor Jahren gestorben.«
»Oh.« Lea verstummte einen Moment und ordnete im Kopf die Fakten. »Eines verstehe ich nicht: Wenn Christine bereits seit mehreren Wochen verschwunden war, warum leitete man erst so spät eine Suchaktion ein?«
»Eben deshalb: weil sie als Ausreißerin bekannt war. An jenem Tag aber – irgendwann im Frühjahr 1986 – rief Christine überraschend ihre Eltern an und teilte ihnen mit, dass sie nach Hause kommen werde. Einzelheiten hat die Polizei mit Rücksicht auf die Privatsphäre der Familie nicht veröffentlicht, aber ich nehme an, dass Christine beschlossen hatte, sich mit ihren Eltern zu versöhnen, nachdem sie wieder einmal davongelaufen war. Sie kündigte an, dass sie mit dem Bus kommen werde, der damals noch von Lüchow aus hierher verkehrte. Die Haltestelle lag da drüben, gleich neben dem Ortsschild …« Winkelmann wies quer über die Straße. »Christines Vater versprach, sie dort mit dem Auto abzuholen, fand sie jedoch nicht vor. Als er sich nach stundenlangem Warten an die Polizei wandte, hatte er wohl einige Mühe, die Beamten von der Ernsthaftigkeit der Sache zu überzeugen. Am nächsten Morgen allerdings befragte man den Busfahrer, und der konnte bezeugen, dass Christine tatsächlich hier ausgestiegen war – schließlich war sie eine auffällige Erscheinung, an die man sich leicht erinnerte. Daraufhin konnte der Vater die Polizei endlich bewegen, eine Suchaktion einzuleiten. Sie blieb ohne Ergebnis. In den Zeitungen hieß es später, dass wahrscheinlich ein Unbekannter Christine bewogen habe, zu ihm ins Auto zu steigen.«
»Ich habe gehört, dass der Vater sich nach Christines Verschwinden umgebracht hat und dass die Mutter in einem Pflegeheim gelandet ist. Stimmt das?«
»Der Tod des Vaters war Dorfgespräch«, sagte Winkelmannund nickte. »Was die Mutter betrifft, da weiß ich nichts Genaues. Sie wohnte noch mehrere Monate allein auf ihrem Gutshof, doch irgendwann fiel den Leuten im Dorf auf, dass ihre Katzen verwilderten, durch die Gärten streiften und Mülltonnen plünderten. Das hatten sie auch früher gelegentlich getan. Nun jedoch wirkten die Tiere schlecht gepflegt und ausgehungert. Die Polizei wurde zum Herforthschen Gutshof geschickt – und fand Christines Mutter offenbar geistig umnachtet vor. Es wurde behauptet, sie habe am Fenster gesessen, in den Wald hinausgestarrt und nicht auf Ansprache reagiert.«
»Mein Gott …«
»Da kam wohl einiges zusammen: Die Tochter war spurlos verschwunden, der Ehemann hatte sich umgebracht – und wenn man den Gerüchten glauben darf, war sie selbst ohnehin eine seelisch labile Persönlichkeit. Die Frau wurde in ein Pflegeheim gebracht und ist dort einige Jahre später an Krebs gestorben. Das weiß ich von unserem Ortsvorsteher.«
»Und nun behaupten die Leute, dass Christine an der Landstraße spukt …«
Zu Leas Erstaunen lachte Gerhard Winkelmann laut auf. »Ja, ich weiß. Alle möglichen Leute wollen sie gesehen haben – irgendwo auf halber Strecke zwischen der Bushaltestelle und dem ehemaligen Anwesen der Herforths. Es begann mit einem Angestellten des Atommülllagers in Gorleben, der damals hier wohnte. Er dachte sich nichts dabei, als er im Vorbeifahren ein Gesicht am Straßenrand bemerkte, das im Dunkeln unter den Bäumen zu schweben schien. Aber seine Frau erzählte die Geschichte im ganzen Ort herum, sodass einige Aufregung entstand. Das ist – warten Sie – gut acht Jahre her. Nachdem das Gerücht erst einmal in die Welt gesetzt war, wollten dann viele Einwohner das weiße Mädchen gesehen haben.Selbst Bauer Gätner beteuert, er sei dem Gespenst einmal begegnet und derart erschrocken, dass er seinen klapprigen alten Ford an den nächsten Baum gesetzt habe. Wenn Sie mich fragen, war er vermutlich bloß betrunken, was bei ihm nicht selten der Fall ist. Am meisten aber hat Hedwig Heller zur Legendenbildung beigetragen. Sie ist Besitzerin des …«
»… des Kunstgewerbeladens«, unterbrach Lea ihn. »Ich werde sie bestimmt noch besuchen.«
»Na, dann wünsche ich Ihnen viel Geduld«, erwiderte
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