Das weiße Mädchen
Winkelmann mit einem ironischen Grinsen. »Und trinken Sie nicht zu viel von dem Tee, den sie auftischt. Angeblich mischt sie irgendwelche exotischen Kräuter hinein.«
»Aus alldem folgere ich, dass Sie persönlich nicht an das Gespenst glauben«, bemerkte Lea.
»Nicht im mindesten.« Winkelmann setzte erneut seinen Spaten an. »Ich ringe noch mit mir, ob ich der Sache ein Kapitel in meinem Buch widmen soll – vielleicht besser nicht.«
»Wie erklären Sie sich die angeblichen Erscheinungen an der Landstraße?«
»Hysterie«, versetzte Winkelmann achselzuckend. »Das Mädchen, das an einer einsamen Straße spukt, ist ein Mythos – eine moderne Version jener Gruselmärchen, die sich Reisende früher am Lagerfeuer erzählten. Es gibt nahezu gleichlautende Geschichten über einsame Landstraßen in Schleswig-Holstein, in Bayern, in Sachsen, sogar anderswo in Europa. Ich kann mir denken, wie solche Märchen entstehen: Jemand sitzt allein im Auto, fährt bei Nacht auf einer einsamen Straße und sieht irgendeinen Lichtfleck – zum Beispiel ein erleuchtetes Fenster, das von fern zwischen den Bäumen schimmert. Vielleicht genügt es auch schon, dass der Scheinwerfer über irgendetwas Unförmiges streift, etwa einen hohen Busch odereinen besonders knorrigen Baumstamm. Einsame Straßen wirken auf Menschen wie Friedhöfe oder verfallene Schlösser: Unbewusst sind sie jederzeit bereit, etwas Unheimliches auftauchen zu sehen. Der Beweis dafür ist die allgemeine Verbreitung dieser Geschichten. Bei uns hier im Wendland kommt noch hinzu, dass ländlicher Aberglaube eine lange Tradition hat.«
»Tatsächlich?«, staunte Lea. »Das hätte ich nicht gedacht.«
»Es hängt mit der Vorgeschichte zusammen«, erklärte Winkelmann bereitwillig, scheinbar ganz in seinem Element. »Sicher wissen Sie, dass das Wendland nach den Wenden benannt ist, einem slawischen Volksstamm, der sich im Mittelalter hier angesiedelt hat. Viele der hiesigen Ortsnamen sind noch heute wendisch, übrigens auch Verchow. Die Wenden glaubten an alle möglichen Gespenster – an Wiedergänger, die aus dem Grab zurückkehrten, und an sogenannte Nachzehrer.«
»Nachzehrer?«, fragte Lea, die den Begriff noch nie gehört hatte.
»Damit meinte man Tote, die in ihren Gräbern wieder zum Leben erwachten. Die Wenden glaubten, dass so ein Nachzehrer mit offenen Augen in seinem Sarg lag und nach seinen Angehörigen schrie, weil er es nicht ertragen konnte, in sein finsteres Gefängnis unter der Erde gebannt zu sein. Wenn daher ein Mensch begraben wurde und seine Angehörigen kurze Zeit später gleichfalls starben oder krank wurden, erklärte man sich die Sache damit, dass der Verstorbene sie zu sich rief.« Winkelmann stieß seinen Spaten in den Boden, wo er zitternd stecken blieb, und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Glück licherweise ist das alles lange her … Sonst hätte man von Christine womöglich noch dasselbe behauptet. Schließlich starben ihre Eltern kurz nach ihr.«
»Sie glauben also, dass Christine tot ist?« Lea runzelte die Stirn. »Immerhin wurde ihr Körper nie gefunden.«
Winkelmann seufzte und blickte in den Himmel. »Was soll schon geschehen sein? Stellen Sie sich die Situation vor: Ein Mädchen, sechzehn Jahre alt, wandert bei Dunkelheit eine einsame Straße entlang. Ein Wagen überholt sie, der Fahrer stoppt, kurbelt die Seitenscheibe herunter und fragt, ob er sie nicht ein Stückchen mitnehmen soll … Und nun zählen Sie zwei und zwei zusammen!« Er seufzte erneut. »Wahrscheinlich hat der Kerl sie irgendwo im Wald verscharrt.«
»Aber die Wälder wurden doch durchsucht.«
»Was besagt das schon? Verstecke gibt es genug: Falls der Täter das Mädchen vergraben oder gar im Moor versenkt hat, war die Aussicht auf Entdeckung von vornherein nahe null. Ich würde jede Wette eingehen, dass Christine Herforth nicht weit von Verchow entfernt an irgendeiner schwer zugänglichen Stelle unter der Erde liegt.«
»Ein unheimlicher Gedanke«, gab Lea unbehaglich zurück, »wenn man sich vorstellt, man könnte irgendwo in den Wäldern seinen Fuß auf das Grab einer Ermordeten setzen.«
»Allerdings.« Winkelmann nickte bedächtig. »Und? Werden Sie in Ihrer Zeitung darüber schreiben?«
»Ich weiß es noch nicht«, gab Lea zu. »Ich muss erst weitere Nachforschungen anstellen, um entscheiden zu können, ob die Sache eine Story hergibt.«
»Dann sollten Sie auf jeden Fall mit Hedwig Heller sprechen«, empfahl Winkelmann.
Lea
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