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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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verabschiedete sich, nachdem der Mann ihr den Weg gewiesen hatte. Während sie zum Dorfplatz zurückging, um sich bei der Eiche nach links zu wenden, kreisten dieGedanken in ihrem Kopf. In der Tat war es sehr unwahrscheinlich, dass Chefredakteur Ehrlig einen Artikel über einen lange zurückliegenden Vermisstenfall veröffentlichen würde, wenn kein aktueller Bezug bestand. Doch das war Lea zunehmend gleichgültig.
E s geht um mehr,
sagte sie sich – und fragte sich zugleich, worin dieses »Mehr« bestand. Warum fühlte sie sich berufen, das Verschwinden eines Mädchens vor vierundzwanzig Jahren aufzuklären?
    Iris
, dachte sie und konnte sich beim Gedanken an ihre Jugendfreundin eines leichten Schauders nicht erwehren.
Bist du diejenige, die mich dazu treibt? Liegst du auch in irgendeinem unbekannten Grab und   … rufst nach mir?
    Unwirsch schüttelte sie den Gedanken ab, als sie eine weitere Gartenpforte öffnete, diesmal zu einem kleinen Haus, das ehemals ein Bungalow gewesen sein mochte, jedoch mit einem spitzen Reetdach überbaut worden war. Es sah ganz so aus, als wollte seine Bewohnerin es um jeden Preis älter wirken lassen, als es war. SPIRITON stand auf dem Schild neben einer altmodischen Glocke – mehr nicht, kein Name.
    Lea klingelte und hörte aus dem rückwärtigen Teil des Hauses das Schlagen einer Tür. Dann öffnete eine zierliche Frau um die fünfzig, mit großen hellblauen Augen und zerzaustem grauem Haar.
    »Frau Heller?«, fragte Lea.
    »Seien Sie gegrüßt!«, erwiderte die kleine Frau mit einer Herzlichkeit, als hätte sie den Besuch erwartet. »Im mer herein, bitte, herein!«
    Lea trat in einen Raum, der offensichtlich teils als Wohnzimmer, teils als Laden genutzt wurde, denn er enthielt sowohl ein laubgrün bezogenes Sofa als auch einen Tresen mit einer altmodischen Registrierkasse. Auf überladenen Regalen türmten sich Tassen, Kannen, Kerzenhalter und Figuren, die größtenteils Engel mit gefaltetenFlügeln darstellten, allesamt aus Ton und augenscheinlich in Handarbeit gefertigt.
    »Was kann ich für Sie tun?«, fragte Frau Heller, die in der Mitte des Raums stehen geblieben war und beide Arme ausbreitete. »Nein, sagen Sie es nicht! – Sie sind auf der Suche nach einem Engel, nicht wahr?«
    »Ähm   …« Lea hüstelte. »Eigentlich   …«
    »Scheuen Sie sich nicht!«, sagte die Gastgeberin mit Wärme. »Jeder von uns sucht nach einem Engel. Eigentlich können Sie ihn nur in sich selbst finden, aber wenn eine meiner bescheidenen Arbeiten Sie zu dieser Suche inspirieren kann, überlasse ich sie Ihnen gern.« Sie ging zu einem der Regale und hob umsichtig eine der Engelsfiguren heraus, deren mildes Lächeln ihrem eigenen ähnelte. »Diesen zum Beispiel habe ich speziell für Menschen wie Sie gefertigt.«
    »Menschen wie mich?«, fragte Lea etwas verstört.
    »Stadtmenschen«, versetzte Frau Heller mit einem beinahe mitleidigen Blick. »Menschen, deren Geist von Unruhe und Sorgen geplagt wird, weil es ihnen an Gelegenheit zur Einkehr mangelt.«
    Lea hüstelte abermals. »Das ist wirklich nett von Ihnen, aber   … Eigentlich hätte ich nur ein paar Fragen.«
    Die kleine Frau zog die Augenbrauen hoch und lächelte freudig überrascht. »Oh, wie schön! Bitte machen Sie es sich bequem. Ich koche uns schnell einen Tee.«
    Sie verschwand durch eine Tür im hinteren Teil des Hauses, was Lea endlich Gelegenheit zu einem amüsierten Schmunzeln gab. Gerhard Winkelmann hatte nicht übertrieben: Hedwig Heller war in der Tat ein wenig merkwürdig – freilich nicht merkwürdiger als die meisten alleinstehenden Frauen, die sich der Esoterik verschrieben hatten. Lea kannte ähnliche Exemplare aus der Stadt, die zumeist mit einer kleinen Zeitungsmeldung bedacht wurden,wenn sie Läden für spirituelle Literatur, Seidentücher oder Duftkerzen eröffneten. Sie ließ sich auf einen der Korbstühle sinken und betrachtete die Gegenstände, die auf dem Tisch verteilt waren: Rund um einen Kerzenleuchter – in Gestalt eines Engels, der in beiden Händen je ein Teelicht hielt – gruppierten sich ein tönerner Untersetzer, geschnitzte Holzschäfchen und eine Art Kartenspiel, dessen oberste Karte aufgedeckt neben den übrigen lag.
    Nach wenigen Minuten kehrte Hedwig Heller mit einer Kanne dampfenden Tees zurück, setzte sich Lea gegenüber und schenkte ein. »Trinken Sie, trinken Sie!«
    Lea hob die Tasse und roch an der heißen Flüssigkeit, die einen merkwürdigen Duft verströmte, irgendetwas zwischen

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