Das weiße Mädchen
Koriander und Brennnessel. »Danke … ähm, was ist da drin?«
Frau Heller lächelte, offenbar nicht im mindesten gekränkt. »Etwas
Gutes
, speziell für Sie. Genau das, was Sie brauchen.«
Lea tat ihr den Gefallen und trank, obwohl das Gebräu nicht wirklich ihrem Geschmack entsprach. Frau Heller musterte Lea aufmerksam, als erwartete sie einen augenblicklichen Rapport über irgendwelche geheimnisvollen Wirkungen. Da Lea dieses Bedürfnis nicht befriedigen konnte, beschloss sie, ihre Gastgeberin abzulenken, und eröffnete ihr den Grund ihres Besuchs.
»Ah«, machte Frau Heller und lehnte sich zurück, offenbar keineswegs enttäuscht, dass Lea nicht als Käuferin gekommen war. »Sie suchen also
Erleuchtung.
«
»Nicht ganz«, stellte Lea richtig. »Ich bin Journalistin und interessiere mich nur für das sogenannte weiße Mädchen von Verchow.«
»Doch, Sie suchen Erleuchtung«, beharrte Frau Heller, »Sie wissen es nur noch nicht. Warum sonst sollte dasSchicksal eines Mädchens Sie berühren, das schon vor so langer Zeit verschwand? Eine Zeitung interessiert sich doch nur für die Oberflächlichkeiten des Tages und blickt weder in die Tiefe noch in die Vergangenheit.«
Vielleicht hätte Lea über diese Bemerkung gekränkt sein müssen, doch das unvermindert herzliche Lächeln ihrer Gastgeberin machte es ihr unmöglich.
»Stimmt schon, ich interessiere mich persönlich für die Sache«, gab sie zu. »Ich habe gehört, dass verschiedene Dorfbewohner dieses Gespenst – oder was immer es ist – gesehen haben wollen. Dabei fiel auch Ihr Name.«
Frau Heller nickte mit ernstem Gesicht. »Oh ja, diese arme missgeleitete Seele findet keine Ruhe.«
»Missgeleitet? Was meinen Sie damit?«
»Dieses Mädchen umgab sich schon zu Lebzeiten mit negativen Energien: Es heißt, sie trug stets schwarze Kleidung und Amulette der dunklen Magie.« Frau Heller seufzte. »Es ist kein Wunder, dass ihr der Eintritt ins Nirvana verwehrt wurde. Sie selbst verschmähte das Licht, das sich am Ende des Tunnels auftat, und gewiss ist sie umgekehrt, um unter den Schatten der Zwischenwelt zu bleiben. Tragisch, doch solch ein Schicksal ist vielen bestimmt, die sich schon zu Lebzeiten vom Licht abkehrten.«
»Haben Sie Christine Herforth denn gekannt?«
»Nicht in ihrer zeitlichen Inkarnation. Ich bin erst vor zehn Jahren hierhergezogen, habe aber viel über das Mädchen gehört.«
»Und Sie glauben, dass Sie Christines Geist an der Landstraße gesehen haben?«
»Oh ja«, versetzte Frau Heller ernsthaft. »Jene Wesen, denen es nicht gelingt, sich von ihrer letzten Inkarnation zu trennen, erscheinen häufig als sichtbare Schatten – selbst für die Augen derer, die sich gewöhnlich dem spirituellen Blick verschließen.«
»Darf ich fragen, wie oft sie diese Erscheinung gesehen haben?«
»Einmal schon vor vielen Jahren, als ich eben erst hierhergezogen war«, sagte Frau Heller, die sich bereitwillig erinnerte, »dann ein zweites Mal vor drei Jahren und ein drittes Mal im letzten September.«
»Und wo?«
»Sie erscheint immer an derselben Stelle, etwa in der Mitte zwischen der alten Bushaltestelle und dem Hof, den einst ihre Eltern bewohnten – auf der linken Straßenseite, wenn man von Verchow her kommt. Sie können die Stelle leicht finden, denn ein Leitpfosten ist dort umgeknickt, seit Herr Gätner, ein Landwirt aus der Nachbarschaft, vor lauter Schreck über die Erscheinung mit seinem Wagen von der Fahrbahn abkam.«
»Waren Sie auch mit dem Auto unterwegs, als Sie das weiße Mädchen sahen?«
Frau Heller lächelte. »Ja, ich habe ein Auto. Ich weiß, das ist eines spirituellen Menschen eigentlich nicht würdig, doch die Umstände der materiellen Welt zwingen mich zu einem gewissen Maß an Anpassung.«
»Verstehe«, sagte Lea, die diesen Aspekt nicht vertiefen wollte. »Können Sie die Erscheinung beschreiben?«
»Ich sah sie immer nur kurz im Vorbeifahren«, erklärte Frau Heller. »Von weitem war es nicht mehr als ein heller Fleck im Dunkeln, aber als ich näher kam und langsamer fuhr, erkannte ich ein menschliches Gesicht. Haare und Körper waren unsichtbar – so schwarz wie der Wald dahinter. Beim ersten Mal habe ich angehalten, um nachzusehen, ob es vielleicht ein einsamer Mensch wäre, dem ich helfen könnte.«
»Könnte das, was sie gesehen haben, nicht tatsächlich ein Mensch am Straßenrand gewesen sein? Ich meine: Warum sind Sie überzeugt, dass es ein Geist war?«
»Eine ruhelose Seele«, korrigierte Frau
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