Das weiße Mädchen
Hauses neben dem kleinen Supermarkt und jätete Unkraut. Lea schätzte ihn etwa ebenso alt wie Rudolf Zirner – um die siebzig –, doch wirkte er drahtig und zäh wie ein alter Jagdhund, dessen geschwundene Muskeln nichts als Sehnen und Knochen zurückgelassen hatten. Als Lea vor der Gartenpforte stehen blieb, richtete er sich auf, stützte sich auf den Griff seines Spatens und wandte ihr sein längliches Gesicht mit grauem Kinnbart und ebenso grauen Augen zu.
Lea stellte sich vor und kam gleich zur Sache.
»Oh«, sagte der alte Mann erstaunt, »Sie interessieren sich für diese alte Geschichte?«
»Für das Verschwinden von Christine Herforth, ja«, erwiderte Lea und nickte.
»Wie sind Sie denn auf mich gekommen?«
»Herr Zirner meinte, Sie hätten Christine unterrichtet – und zudem seien Sie gewissermaßen der Lokalhistoriker hier im Ort«, erklärte Lea.
Winkelmann nickte. »Ja, das bin ich wohl. Ich schreibe an einem Buch über die Geschichte von Verchow und Umgebung.« Erneut packte er seinen Spaten und fuhr fort, mit kräftigen Stichen die Rasenkante zu begradigen. »Kommen Sie ruhig in den Garten herein! Verzeihen Sie, dass ich Sie nicht ins Haus bitten kann – meine Frau ist sehr krank und braucht absolute Ruhe.«
»Vielen Dank.« Lea öffnete die Pforte, trat in den Garten und blieb etwas verlegen neben dem alten Mann stehen, der mit seiner Arbeit fortfuhr.
»Ein schöner Garten«, stellte sie fest, während sie die gepflegten Büsche musterte. »Leben Sie schon lange hier?«
»Seit fünfundvierzig Jahren«, antwortete Winkelmann zwischen zwei Spatenstichen. »Ich war Lehrer am Gymnasium in Lüchow. An Christine kann ich mich recht gut erinnern – sie hatte Geschichte und Erdkunde bei mir.«
»Erstaunlich«, bemerkte Lea, »dass Sie sich nach so langer Zeit an eine einzelne Schülerin erinnern.«
»In Christines Fall ist das gar nicht so erstaunlich. Sie war ein Problemkind – so nennt man das wohl heute – und nicht selten Gesprächsthema im Lehrerzimmer. Als sie spurlos verschwand, war das ganze Dorf in Aufregung. Die Polizei durchkämmte die Wälder, und ein Beamter kam auch in den Unterricht und stellte ihren Mitschülern Fragen.«
»Kam etwas dabei heraus?«
»Nicht, dass ich wüsste. Christine hatte keine Freunde, jedenfalls nicht in der Schule.«
»Ich habe bereits gehört, dass Christines Eltern als Außenseiter galten.«
»Das war nicht der einzige Grund.« Winkelmann setzte den Spaten ab und stützte sich wieder auf den Griff, um zu verschnaufen. »Auch sie selbst war … seltsam.«
»Was meinen Sie damit?«
»Uns Lehrern war sie ein Rätsel. Sie blieb gern allein und im Hintergrund, ganz die stille Beobachterin. Ihr Nachbarplatz war immer frei. Niemand wollte sich neben sie setzen. Im Unterricht machte sie nur selten den Mund auf – aber wenn sie es tat, konnte man stets auf eine sarkastische Bemerkung gefasst sein. Ein seltsames Mädchen … Sie fiel auf, selbst wenn sie nur dasaß und schwieg. Stets trug sie schwarze Kleidung: schwarze Schuhe, schwarze Hosen, schwarze Blusen, dazu exotischen Schmuck und ein Amulett mit einem Totenkopf. Ihr Gesichtschminkte sie immer kalkweiß, sodass es blass wirkte wie das einer Toten.«
»Ah.« Lea nickte, denn sie kannte ähnlich aparte Erscheinungen aus ihrer Jugendzeit. »Ein Gothic-Mädchen.«
»Keine Ahnung, wie die jungen Leute so etwas nennen.« Winkelmann zuckte die Achseln. »Jedenfalls war sie nicht gerade beliebt. Einige Schüler schienen Angst vor ihr zu haben, andere spotteten und nannten sie ›die Trauerweide‹, wegen der langen schwarzen Haare, die immer zur Hälfte ihr Gesicht verdeckten. In größeren Städten mag so etwas nichts Ungewöhnliches sein, aber hier in der Provinz stach Christine hervor wie ein Paradiesvogel – oder, passender gesagt, wie eine schwarze Krähe. Als sie dann plötzlich verschwand, wurde natürlich getuschelt.«
»Was wurde denn getuschelt?«
»Einige Schüler glaubten, sie sei einfach von zu Hause weggelaufen. Das wäre nicht das erste Mal gewesen. Vor ihrem endgültigen Verschwinden war Christine bereits zwei Wochen lang nicht mehr in der Schule aufgetaucht. Das erzählte mir jedenfalls ihre Klassenlehrerin.«
»Interessant. Weiß man etwas über die Hintergründe?«
Winkelmann schüttelte den Kopf. »Teenager eben … vielleicht war ein Freund im Spiel, vielleicht häuslicher Streit. Meine Kollegin sagte, die Eltern seien völlig hilflos gewesen. Sie wussten selbst
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