Das weiße Mädchen
erschöpft auf dem Doppelbett im Schlafzimmer lagen.
»Was hast du denn in den zwei Tagen so getrieben?«, fragte Kai, der gedankenverloren mit ihren Haaren spielte.
Lea fühlte wenig Lust, über die jüngsten Ereignisse zusprechen und beschloss einstweilen, weder ihren Besuch im Haus der Herforths noch Mara Heimberger zu erwähnen.
»Ich habe auf dich gewartet«, antwortete sie.
Kai lächelte geschmeichelt. »Sonst nichts?«
»Nicht viel.« Lea drehte sich zur Seite und schmiegte sich an ihn. »Und du?«
Nun war er es, der abwinkte. »Lauter langweiliges Zeug. Ich denke, die Probleme meiner Kunden wären für dich ebenso wenig interessant wie der Zustand der Zimmerpflanzen in meiner Wohnung.«
»Ich fürchte, da hast du recht …« Leas Blick fiel auf den Wecker auf ihrem Nachttisch. Es war bereits nach neun. »War es schon dunkel, als du in Groß Heide auf die Waldstraße abgebogen bist?«
Kai hob die Augenbrauen. »Es dämmerte gerade. Wieso?«
»Hast du irgendetwas an der Straße gesehen?«
Kai seufzte beinahe mitleidig. »Immer noch auf Gespensterjagd?«
Lea zuckte die Achseln. »Ich wollte es nur wissen.«
»Und ich dachte, ich hätte dich auf andere Gedanken gebracht«, sagte Kai enttäuscht.
»Hast du auch«, versicherte Lea schuldbewusst. »Viel leicht brauche ich einfach mehr von dieser Therapie. Dreimal täglich könnte genügen.«
Er lachte. »Das lässt sich einrichten. Wenn ich darf, komme ich morgen früh wieder.«
»Kannst du die Nacht nicht bei mir verbringen?«
»Nichts täte ich lieber, aber ich muss mich um Rudi kümmern. Er legt Wert darauf, dass ich Wand an Wand mit ihm schlafe, falls doch einmal ein Notfall eintritt. Also werde ich dein luxuriöses Gemach doch wieder gegen das Kinderzimmer eintauschen müssen, aber wassoll’s« – er küsste Leas Schulter –, »ich kann ja an dich denken.«
Lea brauchte einen Augenblick, bis ihr aufging, was sie an seinen letzten Worten stutzig machte.
»Sagtest du
Kinderzimmer?
Ich dachte, dein Onkel hat keine Kinder.«
Kai blickte sie erstaunt an. Dann plötzlich schien er zu begreifen, seufzte und verdrehte die Augen. »Ach verflixt, nun ist es ja auch egal.«
»Was meinst du?«
»Also gut.« Kai blickte zur Decke. »Eigentlich soll ich es niemandem erzählen. Du musst mir versprechen, es für dich zu behalten – ebenso, wie ich es Rudi versprechen musste.«
Lea nickte erwartungsvoll.
»Rudi
hat
einen Sohn«, begann Kai mit schwerer Stimme. »Aber er redet nicht über ihn. Selbst mir hat er es nur erzählt, weil ich mich um sein Testament kümmern musste und weil es bei Nachlassfragen natürlich wichtig ist, jeden Erbberechtigten zu kennen.«
»Was ist mit seinem Sohn? Wo lebt er?«
Kai zuckte die Achseln. »Rudi weiß es nicht. Er hat ihn seit mehr als zwanzig Jahren nicht gesehen.«
»Hast du eine Ahnung, warum?«
»Nur vage«, gab Kai zu. »Wie gesagt, Rudi meidet das Thema. Soweit ich verstanden habe, war der Junge zeitlebens nicht von sehr stabiler Gesundheit. Er war wohl ungefähr sechzehn, als Rudi ihn in eine Spezialklinik nach Lüneburg bringen ließ. Dort blieb er mehrere Jahre, und irgendwann ließ er ausrichten, dass er keinen Kontakt mehr zu seinem Vater wünsche. Rudi hat ihn nie wieder gesehen.«
»Das ist ja furchtbar!«, flüsterte Lea betroffen. Gleichzeitig jedoch regte sich ihr journalistischer Instinkt, undsie zog ihre Schlüsse. Es gab nur eine einzige Art von Krankenhaus, die es einem Minderjährigen gestatten konnte, den Kontakt zu seinen Eltern abzulehnen. »Die Spezialklinik war nicht zufällig das Psychiatrische Landeskrankenhaus?«
Kai warf ihr einen halb erstaunten, halb resignierten Blick zu. »Du hast es erraten.«
»Und warum will dein Onkel nicht über diesen Sohn sprechen?«
Kai verzog den Mund. »Na ja, versuch ihn zu verstehen. Er hat damals innerhalb weniger Jahre seine ganze Familie verloren. Seine Frau starb nach einer Fehlgeburt, und dann wurde der Junge krank, verschwand in der Klinik und kam nie wieder. Es muss eine sehr schwere Zeit für Rudi gewesen sein.«
»Aber seine Frau schweigt er nicht tot«, stellte Lea fest. »Im Gegenteil, er hat eine Gedenkstätte für sie in seinem Rosengarten. Warum also verheimlicht er die Existenz seines Sohnes? Viele ältere Leute in Verchow müssen ihn doch gekannt haben.«
»Ein paar vielleicht, aber niemand ist so taktlos, Rudi darauf anzusprechen. Offenbar respektieren die Leute seinen Wunsch, nicht an den Jungen erinnert zu
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