Das weiße Mädchen
werden.«
»Aber warum will dein Onkel nicht an ihn erinnert werden?«
»Das hat er mir nicht verraten. Er deutete nur an, dass er – Rudi – sich für diesen Sohn schämen müsse.« Kai seufzte. »Ich hätte nicht mit dem Thema anfangen sollen. Genau das wollte Rudi vermeiden: dass die Leute neugierig werden, Fragen stellen und Klatsch in die Welt setzen.«
»Ich setze keinen Klatsch in die Welt, keine Sorge«, versprach Lea. »Ich frage mich nur, was zwischen den beiden vorgefallen sein mag.«
»Keine Ahnung. Nahe Verwandte sind nun einmal nicht immer die besten Freunde. Denk an meinen Vater: Er war Rudis Bruder, aber die beiden hatten sich derart zerstritten, dass jahrzehntelang kein Kontakt zwischen ihnen bestand. Ich wusste lange Zeit nicht einmal, dass ich einen Onkel habe, von einem Cousin ganz zu schweigen.«
In Leas Kopf verdichtete sich eine unbestimmte Ahnung. »Weißt du,
wann
der Sohn deines Onkels in die Klinik kam?«
»Wie gesagt, nicht lange nach dem Tod seiner Mutter.«
Lea erinnerte sich an die Steinplatte im Garten: Karin Zirner, gestorben 1985. Das Verschwinden von Rudolf Zirners Sohn fiel demnach etwa in dieselbe Zeit wie das von Christine Herforth.
»Kennst du seinen Namen?«
Kai nickte. »Uwe. Aber mehr weiß ich wirklich nicht über ihn. Tu mir einen Gefallen und lass uns über etwas anderes reden! Rudi wäre stocksauer, wenn er wüsste, was ich hier gerade ausplaudere.«
Lea entsprach seinem Wunsch, da sie spürte, dass er sich in die Enge getrieben fühlte. Sie verbrachten noch eine halbe Stunde mit belanglosen Plaudereien, bis Kai schließlich erklärte, dass er nach oben zurückkehren müsse. Mit Bedauern sah Lea zu, wie er sich anzog, begleitete ihn zur Wohnungstür und genoss eine leidenschaftliche Verabschiedung mit vielen letzten und ebenso vielen allerletzten Küssen, bis sie sich schließlich trennten.
Erst als Lea ins Schlafzimmer zurückkehrte und sich auf dem Bett ausstreckte, schaltete sich ihr Verstand wieder ein. Selbst ihre Verliebtheit konnte den Strom der Gedanken nicht hemmen, der sie nun, in der Stille des abgedunkelten Raums, unwiderstehlich mit sich fortriss.
Uwe Zirner … U. Z. Kai sagte, er sei etwa sechzehn
Jahre alt gewesen, als er erkrankt sei. Auch Christine Herforth war sechzehn. In ihrem Tagebuch taucht U. Z. immer wieder auf: Er beobachtet sie, stellt ihr nach, bedrängt sie … Auf dem letzten Bild flieht sie sogar vor ihm.
Lea vergaß Mara Heimberger, den selbstgerechten Ortsvorsteher und die Intrigen der betrogenen Ehemänner. Womöglich hatte Christines Verschwinden einen ganz anderen Grund. Die Lösung, nach der Lea bislang vergeblich gesucht hatte, war vielleicht viel naheliegender –, und das im wahrsten Sinn des Wortes, denn plötzlich trat ein Mensch in den Kreis der Verdächtigen, der einst im selben Haus gewohnt hatte wie sie jetzt.
Rudi deutete an, dass er sich für diesen Sohn schämen musste,
echoten Kais Worte in Leas Geist. Doch warum? Was hatte Uwe Zirner Beschämendes getan? Womöglich etwas derart Schlimmes, dass seinem Vater nichts anderes übrig geblieben war, als ihn in die psychiatrische Klinik einweisen zu lassen?
Das Landeskrankenhaus hat eine forensische Abteilung,
erinnerte sich Lea,
eine Abteilung für seelisch gestörte Straftäter. Nach Kais Worten war der Junge »zeitlebens nicht bei stabiler Gesundheit«, und das heißt doch wohl: dauerhaft psychisch krank. Und er war heftig in Christine verliebt, wie ihr Tagebuch verrät. Er verfolgte und bedrängte sie. Welche Auswüchse hat diese Besessenheit wohl angenommen? Ist es denkbar …?
Natürlich war es denkbar, erkannte sie schaudernd. Die Triebe eines Sechzehnjährigen waren stark, und nicht jeder Jugendliche war so vernünftig und kontrolliert, wie Lea es von ihrem eigenen Sohn gewohnt war. Womöglich hatte er Christine vergewaltigt – und dann getötet, um den Folgen zu entgehen.
Ganz langsam, Lea,
mahnte die skeptische Gegenstimme in ihrem Inneren.
Zügle deine Fantasie! Wenn Uwe
Zirner etwas damit zu tun gehabt hätte und deswegen in die Psychiatrie gesteckt worden wäre, hätte die Polizei den Fall nicht ungelöst zu den Akten gelegt.
– Vielleicht weiß ja niemand davon,
antwortete Lea.
Vielleicht hat niemand je herausgefunden, was der Junge getan hat – außer seinem Vater. Wie hätte Rudolf Zirner wohl reagiert, wenn er herausgefunden hätte, dass sein einziger Sohn ein Mörder war? Ganz gewiss hätte er nicht die Polizei
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