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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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verständigt. Stattdessen hätte er versucht, die Sache zu vertuschen, denn der Skandal im Dorf wäre ungeheuerlich gewesen. Indem er seinen Sohn in die Psychiatrie einweisen ließ, sorgte er dafür, dass der Junge sicher verwahrt wurde und kein weiteres Unheil mehr anrichten konnte, und gleichzeitig schützte er ihn auf diese Weise vor der Polizei. Uwe Zirner jedoch hat seinem Vater diese Maßnahme nicht gedankt. Stattdessen fühlte er sich verstoßen und brach später den Kontakt ab.
    – Und dann?,
fragte die Stimme.
Was soll aus ihm geworden sein?
    – Er ist wieder hier,
erkannte Lea plötzlich.
Er ist zurückgekehrt: ein seelisch schwer gestörter Mann in mittleren Jahren, der inkognito das Anwesen der Herforths bezogen und im Keller einen Altar mit Christines Hinterlassenschaften eingerichtet hat. Als Jugendlicher war er in sie verliebt gewesen, und diese Leidenschaft hat ihn – wie bei vielen krankhaft Besessenen – nie verlassen.
    Erneut schauderte Lea. Sie war sich bewusst, dass ihre Theorie derzeit völlig unbeweisbar war, doch allein die Vorstellung, dass der geheimnisvolle Bewohner des Herforth-Hauses Christines Mörder sein könnte, erfüllte sie mit Grauen. Sie war in seinen Keller eingedrungen, hatte sich vor ihm versteckt, seine seltsame Erscheinung nur wenige Meter entfernt im Spiegel gesehen. Was wäre geschehen, wenn er sie entdeckt hätte? Wozu war er fähig?Hätte er sie umgebracht oder zumindest in dem Kellergewölbe eingesperrt, wo niemand ihre Schreie hören konnte?
    Du übersiehst etwas,
mahnte die Stimme.
Angenommen, du hättest recht, angenommen, Uwe Zirner wäre Christines Mörder. Warum sollte er dann in ihrer Gestalt an der Landstraße stehen und vorbeikommende Autofahrer erschrecken? Damit würde er doch geradezu auf sein Verbrechen hinweisen.
    – Keine Ahnung, was in so einem kranken Gehirn vor sich gehen mag. Womöglich kostümiert er sich als Christine, um sich selbst vorzuspiegeln, sie sei noch am Leben. Vielleicht versucht er auf diese Weise, ungeschehen zu machen, was er getan hat.
    – Du denkst an ›Psycho‹, nicht wahr? Norman Bates, der in die Rolle seiner Mutter schlüpft, um nicht wahrhaben zu müssen, dass er sie umgebracht hat.
    – Das ist gar nicht so abwegig. Dass er sich gern als Frau verkleidet, habe ich schließlich mit eigenen Augen gesehen.
     
    Schluss jetzt!,
würgte Lea den inneren Dialog ab. Es hatte keinen Sinn, sich in immer kühnere Spekulationen hineinzusteigern. Ob Uwe Zirner etwas mit Christines Tod zu tun hatte, konnte sie nur herausfinden, indem sie die einzigen Personen befragte, die etwas darüber wissen konnten: ihn selbst – oder seinen Vater. Die erste Möglichkeit schied faktisch aus. Der rätselhafte Bewohner des Herforthschen Hofs würde keine Fragen beantworten, erst recht nicht, wenn Leas Verdacht zutraf. In diesem Fall war es nicht einmal ausgeschlossen, dass sie mit einem unbedachten Vorstoß ihr Leben riskierte. Rudolf Zirner jedoch kam als Informant ebenso wenig in Betracht. Kai hatte deutlich zum Ausdruck gebracht, dass der Mannnicht über seinen Sohn zu sprechen wünschte. Normalerweise wäre Lea dies gleichgültig gewesen, denn als Journalistin war sie es gewohnt, unangenehme Fragen zu stellen. Diesmal jedoch waren die Umstände prekär: Kai hatte ihr das Versprechen abgenommen, die Geschichte für sich zu behalten, so wie er selbst es seinem Onkel versprochen hatte. Wenn dieser durch Lea erfuhr, dass Kai geplaudert hatte, konnten ernsthafte Verwicklungen die Folge sein. Unter keinen Umständen wollte sie Kai in den Rücken fallen – zumal eine solche Taktlosigkeit Zirners Mitteilungsbereitschaft nicht eben gefördert hätte.
    Was soll ich tun?,
grübelte Lea.
    Diesmal war die Antwort ihrer inneren Stimme eindeutig und knapp:
Geh ins Bett! Schlaf darüber.
    Sie beschloss, der Stimme zu gehorchen.

Freitag
    Lea war wieder siebzehn, stand im Badezimmer ihres früheren Elternhauses und schminkte sich für eine Party. Iris war bei ihr. Gemeinsam drängten sie sich vor dem Spiegel, lachten und zankten sich um den Kajalstift. Wie immer beneidete Lea ihre Freundin um deren ausdrucksvolle braune Augen und ummalte schließlich ihre eigenen – hellblauen – so dunkel, dass sie fast unheimlich wirkten.
    Sieht komisch aus,
meinte Iris skeptisch.
Glaubst du, das gefällt ihm?
    Die Szene wechselte, und plötzlich befanden sie sich in der alten Diskothek im Lüneburger Industriegebiet. Technomusik wummerte aus mannshohen

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