Das weiße Mädchen
trat einfach auf mich zu und sagte:
Sie sehen so unglücklich aus.
Das hatte noch nie jemand zu mir gesagt, schon gar kein Fremder. Ich blickte ihn an, und er blickte mich an mit seinen warmen braunen Augen. Schließlich fragte er:
Kann ich Ihnen irgendwie helfen?
« Mara verstummte.
»Und da war es um Sie geschehen«, vermutete Lea.
Mara nickte und schwieg längere Zeit, bevor sie weitersprach.
»Wir trafen uns nur selten, meistens, wenn ich zum Frisör oder zum Einkaufen nach Lüchow fuhr. Aber es war himmlisch, jedes einzelne Mal – das Schönste, was ich je erlebt habe. Erst später erfuhr ich, dass Martin schon mit mehreren Frauen im Dorf ein Verhältnis gehabt hatte. Eigentlich hätte ich rasend eifersüchtig sein müssen, aber seltsamerweise war ich es nicht. Ich kannte ihn inzwischen und wusste, dass er nicht der Gigolo war, den viele in ihm sahen. Er war einfach …«, sie suchte nach Worten, »… ein geborener Tröster. Es war sein Schicksal, zu lieben und geliebt zu werden. Er konnte nichts dagegen tun. Dabei litt er furchtbar, denn er hatte die schwersten Gewissensbisse gegenüber seiner Familie – doch sein Bedürfnis, Menschen glücklich zu machen, war stärker. Er war voller Mitleid und Zärtlichkeit, und er zog alle Frauen an, die genau das entbehrten. Wann immer er sich im Dorf blicken ließ, waren die Reaktionen die gleichen: Alle Frauen blickten sich nach ihm um – und alle Männer murrten und fluchten.«
Lea nickte versonnen. »Ich kann es mir in etwa vorstellen. Können Sie mir sagen, mit wem er sonst noch außereheliche Beziehungen unterhielt?«
»Ich weiß es nicht mit Sicherheit«, gab Mara zu. »Aber auf jeden Fall – bevor er mich traf – mit Frau Gätner.«
»Der Frau des Bauern?«
Mara nickte. »Und zeitweise wohl auch mit Angelika, der Frau eines Tierarztes im Dorf. Sie lebt nicht mehr hier. Die Familie ist kurz danach in die Stadt gezogen. Der Mann ist meines Wissens kürzlich gestorben.«
»Hieß dieser Tierarzt zufällig Frank mit Vornamen?«
Mara nickte erstaunt. »Ja, Frank Terhart. Woher wissen Sie das?«
»Ich habe einen alten Zeitungsartikel ausgegraben«, erklärte Lea. »Darin ging es um eine Krankheit, die wahrscheinlich von Katzen verbreitet wurde. Irgendjemand muss die Herforths in diesem Zusammenhang angezeigt haben, denn die Veterinärbehörde schickte ihnen einen Inspektor ins Haus. In diesem Artikel war sowohl von Herrn Gätner die Rede als auch von dem Tierarzt.« Sie hielt einen Moment inne, denn ein Gedanke streifte sie. »Die Beschwerdeführer waren also zwei von Martin Herforth betrogene Ehemänner … Ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist.«
»Martin glaubte das auch nicht«, stimmte Mara zu. »Er sagte damals, es sei ein Komplott, um sich an ihm zu rächen und seine Familie aus Verchow zu vertreiben. Er hielt den Tierarzt sogar für fähig, den Erreger selbst verbreitet zu haben, um dann die Schuld auf Maria Herforths Katzenzucht schieben zu können.«
»Hui.« Lea pfiff durch die Zähne. »Das ist ja ein starkes Stück. War es denn der Tierarzt, der die Herforths angezeigt hat, oder war es Gätner?«
Mara senkte beschämt den Kopf. »Keiner von beiden.«
»Sondern?«
»Mein Mann«, gab Mara kleinlaut zu. »Er war damals noch nicht Ortsvorsteher, aber Rechtsanwalt, und sowohl Terhart als auch Gätner kamen wegen der Sache zu ihm, um rechtliche Schritte gegen die Herforths einzuleiten.«
»Wissen Sie was?«, meinte Lea nachdenklich. »Das sieht mir fast nach einer Verschwörung aus: Drei betrogene Ehemänner schmieden gemeinsam einen Plan, um die Herforths aus Verchow zu vertreiben.«
Mara schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht glauben – nicht von meinem Mann.«
»Wusste er von Ihrer Beziehung zu Martin Herforth?«
Mara biss sich auf die Lippen. »Ob er es damals schon wusste, kann ich nicht sagen. Vielleicht.«
»Wann hat er es definitiverfahren?«
»Spätestens 1986, als Christine Herforth verschwand.« Mara seufzte, und Lea bemerkte, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten. »Es war furchtbar. Die Polizei kam zu uns – mein Mann war außer sich. Ich hatte solche Angst … Ich fürchtete, er würde mich umbringen, wenn sie wieder fort wären.«
»Die Polizei kam zu
Ihnen?
« Erregt lehnte Lea sich vor. »Warum?«
Mara weinte eine Weile still vor sich hin, bevor sie flüsternd weitersprach. »Martin hatte versprochen, seine Tochter von der Bushaltestelle abzuholen – aber er kam zu spät und fand sie nicht mehr
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