Das weiße Mädchen
Verstärkerboxen, während eine gesichtslose Menge auf der Tanzfläche im Rhythmus bebte. Lea stand abseits und blickte sich nach Iris um – da war sie, drüben an der Bar, einen Cocktail in der Hand und in ein angeregtes Gespräch mit einem Mann vertieft. Die Lautstärke der Musik brachte es mit sich, dass die beiden einander sehr nahe kommen und praktisch Wange an Wange stehen mussten, um sich unterhalten zu können. Ein glühender Stich der Eifersucht durchzuckte Lea, als sie in dem Mann Kai Zirner erkannte, untypisch gekleidet in eine schwarze Jeans und ein halb offenes, flattriges Hemd, in dessen Ausschnitt eine silberne Halskette schimmerte.
Lass ihn in Ruhe!
, schrie Lea, als sie auf die beiden zustürmte.
Er gehört zu mir!
Die beiden wandten sich erstaunt zu ihr um, Iris mit ungewohnt abweisender Miene, Kai mit milder Überraschung, als habe er sie nie zuvor gesehen. Die plötzliche Fremdheit der beiden ließ Lea zurückweichen. Mit klopfendem Herzen zog sie sich in eine Ecke neben der Bar zurück, ließ das Paar jedoch nicht aus den Augen. Iris flirtete heftig, wie es stets ihre Art gewesen war, und bald begannen die beiden hemmungslos zu knutschen. Lea bebte vor Zorn, wagte jedoch nicht einzugreifen. Nach einiger Zeit gingen Kai und Iris, eng umschlungen, in Richtung der Toiletten davon. Rasch verließ Lea ihren Beobachtungsposten und folgte ihnen in sicherem Abstand. Was hatten sie vor? Würden sie eine schnelle Nummer in der nächstbesten Kabine absolvieren? Es hätte Lea nicht gewundert, denn so etwas hatte Iris schon einmal getan.
Aber nicht mit Kai!,
schwor sie sich, riss die Tür der Damentoilette auf – und fand sich plötzlich in einem Raum mit brüchigem Betonboden wieder, der von Schutt und losen Ziegeln übersät war. Die Decke war eingebrochen und öffnete sich zum Nachthimmel, an dem der Mond stand. Es gab keine Kabinen – nur ein einziges schmutziges Toilettenbecken, an der Wand auf ein nacktes Rohr montiert. Brille und Spülkasten fehlten.
Sie können nicht hier sein,
dachte Lea, während sie sich in dem verwüsteten Raum umblickte.
Wo sollten sie sich verstecken?
Dann aber drangen Schreie an ihr Ohr – Schreie einer weiblichen Stimme.
Iris?
Leas Herz machte einen Satz, und sie lief ebenso panisch wie ziellos in dem leeren Raum umher.
Iris, wo bist du?
Noch immer schrie die Stimme verzweifelt, doch gedämpft,wie von fern oder aus einem Hohlraum unter der Erde.
Lea trat zu dem ramponierten Toilettenbecken, bemerkte, dass in dem Rohr kein Wasser stand, und beugte sich langsam hinab.
Iris? Bist du da unten?
Ihr Zorn auf die Freundin wich augenblicklich einem maßlosen Grauen, als sie begriff, dass die Schreie tatsächlich aus dem Abflussrohr heraufdrangen. Wie war das möglich? Was hatte Kai ihrer Freundin angetan?
Ich komme!,
schrie Lea,
Hab keine Angst! Halt durch! Ich hole dich da raus, und dann wird alles wie früher sein.
Aber wie? Wie gelangte man in die Kanalisation? Sollte sie die Feuerwehr rufen? Lea stürzte zum Ausgang, um in die Diskothek zurückzukehren und den erstbesten Menschen, den sie traf, um Hilfe zu bitten. Als sie jedoch die Tür aufriss, führte diese nur in einen weiteren dunklen Raum, der ebenso kahl und leer war wie die Toilette. In der Mitte des Raums saß ein Mann am Boden, der ihr den Rücken zuwandte. Lea bemerkte, dass er langes schlohweißes Haar hatte. Bei ihrem Eintreten erhob er sich mühsam, auf einen Stock gestützt, und drehte sich langsam zu ihr um.
Entsetzen ergriff Lea, und eine Gänsehaut kroch ihren Nacken hinauf, ließ ihre Kopfhaut prickeln und ihre Haare zu Berge stehen. Der Mann trug eine Art Theatermaske wie aus einer antiken Tragödie, mit schwarzen Löchern als Augen und einem riesigen klaffenden Viereck als Mund. Mit der einen Hand stützte er sich auf seinen Stock; mit der anderen hielt er Lea das gerahmte Porträt einer Frau entgegen, dessen Deckglas gesplittert und zersprungen war. Aus der konturlosen Höhle seines Mundes drang ein hohles fremdartiges Geräusch, eine Art langgezogenesStöhnen, das nicht abbrach, sondern lauter und lauter wurde – bis Lea es nicht mehr ertragen konnte und ihrerseits schrie.
In Schweiß gebadet fuhr Lea hoch und tastete nach der Nachttischlampe. Der Wecker zeigte drei Uhr dreißig. Die Hitze, die sie so lange am Einschlafen gehindert hatte, war verflogen. Stattdessen fror sie, denn ihre Haut war feucht, und durch das weit geöffnete Fenster drang kühle Luft herein. Offenbar hatte
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