Das weiße Mädchen
jede Wette ein, dass seine Neugier mit meinen Recherchen zu tun hat. Er wollte wissen, was ich herausgefunden habe – vielleicht, weil ich auf der richtigen Spur bin und weil er sich bedroht fühlt.
Sie schloss die Tür auf, kehrte ins Wohnzimmer zurück und nahm den Raum sorgfältig in Augenschein. Erwartungsgemäßschien nichts gestohlen worden zu sein, obwohl die Schubladen einiger Schränke aufgezogen waren. Die Handtasche, die auf dem Küchentresen lag, war geöffnet und durchwühlt worden: Der Einbrecher hatte sie ausgeleert, ohne Brieftasche oder Bargeld an sich zu nehmen. Leas Notizblock lag aufgeschlagen neben dem Laptop. Zweifellos hatte der Unbekannte ihn durchgeblättert. Dann hatte er den Computer durchsucht, was keine große Mühe verlangte: Das Gerät war nicht passwortgesichert, und es gab nur ein einziges Benutzerprofil, das beim Einschalten automatisch aktiviert wurde. Wahrscheinlich hatte der Einbrecher sämtliche Mails gelesen, die sich im Postfach befanden.
Christines Tagebuch!,
dachte Lea plötzlich.
Wo ist es? Hat er es mitgenommen?
Dann erst erinnerte sie sich, dass sie das Buch bei Mara Heimbergers überraschendem Besuch unter das Sofa gekickt hatte. Sie ließ sich nieder, tastete danach und seufzte erleichtert auf, als sie den Einband zu fassen bekam. Dabei fiel ihr Blick auf ein einzelnes Haar, das am Boden lag. Mit spitzen Fingern hob sie es auf. Es war lang – doppelt so lang wie ihr eigenes Haar – und glänzte tintenschwarz.
Seine schwarze Perücke … Er trägt sie, wenn er sich als Christine verkleidet. Er war es: Der Bewohner des Herforth-Hauses! Niemand sonst im Dorf hat langes schwarzes Haar.
Lea schauderte bei dem Gedanken, dass der unheimliche Mann, der sich als Frau verkleidete, unmittelbar an ihrem Bett vorbeigegangen war. Sein Besuch erhärtete den Verdacht, den sie seit dem Vorabend hegte: Sein Verhalten ergab nur dann einen Sinn, wenn er tatsächlich Christines Mörder war. Er hatte herausfinden wollen, ob sie ihm bereits auf die Schliche gekommen war – und erhatte das Tagebuch gesucht, das einzige Dokument, das auf seine Identität hinwies.
Am schauerlichsten jedoch erschien Lea die Tatsache, dass er für den Einbruch seine Verkleidung angelegt hatte. Ob er sich auch das Gesicht weiß geschminkt hatte wie bei seinen Maskeraden an der Landstraße? Zeitweise schien er tatsächlich zu glauben, er
sei
Christine, offenbar in dem psychotischen Bestreben, seine Mordtat zu verdrängen. Um sich nicht eingestehen zu müssen, dass er Beweismittel verschwinden lassen wollte, war er als Christine gekommen, wahrscheinlich von der wahnhaften Idee besessen, er – oder vielmehr sie – müsse ihr Tagebuch zurückholen.
Lea richtete sich auf, bemerkte, dass ihre Beine zitterten, und ließ sich auf das Sofa fallen. Ihre Finger öffneten sich. Das schwarze Haar sank auf das aufgeschlagene Tagebuch. Automatisch griff sie nach ihrem Handy.
Die Polizei … Wer sonst konnte sie vor diesem Irren beschützen? Ihr Finger schwebte bereits über den Tasten.
Stopp,
zwang sie sich zur Ruhe.
Was, wenn er wirklich Uwe Zirner ist?
Ihr Traum schien es zu beweisen, und Lea vertraute dieser Intuition: Ihr Unterbewusstsein hatte Christine mit ihrer Jugendfreundin Iris verschmolzen und ihr den Mörder gezeigt – niemand anderen als Kai. Natürlich war nicht wirklich Kai gemeint. Der Traum deutete lediglich an, dass der Mörder zu Kai in näherer Beziehung stand. Tatsächlich war er sein Cousin. Wenn Lea die Polizei alarmierte, würde sie ihren Verdacht offenlegen müssen. Auch die Zirners würden befragt werden, und Rudolf Zirner würde erfahren, dass Kai sein Geheimnis verraten hatte. Kai wiederum wäre gewiss nicht erfreut, dass Lea die Familiengeschichte, deren Geheimhaltung sie ihm versprochen hatte, schon am nächsten Morgen den Behördenmitteilte. Und wozu das alles? Selbst wenn Leas Verdacht zutraf, würde man dem Bewohner des Herforth-Hauses weder den Einbruch noch gar den Mord an Christine nachweisen können. Das schwarze Haar stammte von einer Perücke, enthielt also keine DNA des Täters. Wahrscheinlich würde die Polizei ihn nicht einmal vernehmen können, da er sich heimlich im Herforth-Haus aufhielt und gewiss nicht an die Tür ging, wenn jemand klingelte. Und selbst wenn man ihn zufällig antraf, machte ein Verhör keinen Sinn. Schließlich gab er sich überzeugend als taubstumm aus.
Lea ließ die Hand mit dem Telefon sinken.
Nein,
dachte sie.
Es ist noch nicht der
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