Das weiße Mädchen
sie zudem vergessen, die Tür zum Wohnzimmer zu schließen, sodass in dem kleinen Raum ein unangenehmer Durchzug herrschte.
Jede Nacht Albträume,
dachte Lea resigniert.
Was ist nur los mit mir?
Sie schwang die Beine aus dem Bett, schlüpfte in ihre Hausschuhe und schloss das Fenster. Dann ging sie zur Tür hinüber, um auch diese zu schließen – und verharrte erstaunt, als sie im Wohnzimmer ein bläuliches Leuchten wahrnahm. Es kam vom Glastisch neben der Couch.
Habe ich meinen Laptop angelassen? Meine Güte, bin ich neuerdings zerstreut.
Sie trat ins Wohnzimmer, machte Licht, ging zum Tisch und stellte fest, dass der tragbare Computer tatsächlich eingeschaltet war. Auf dem Bildschirm leuchtete eine ihrer E-Mails .
Warum läuft der Bildschirmschoner nicht?,
fragte sie sich. Dann erst kam ihr zu Bewusstsein, dass sie diese Mail am Vorabend gar nicht geöffnet hatte: Es war die Nachricht von Jörg Hausmann mit den Zeitungsartikeln über die Katzenseuche.
Ein Geräusch ließ Lea erstarren: ein fast unmerkliches Knarren wie von einer Schuhsohle. Es kam von hinten, aus der Richtung der Schlafzimmertür, die sie eben durchschritten hatte. Ein Schauder kroch ihr über den Rücken, weit schlimmer als vor wenigen Minuten im Traum.
Oh Gott … Jemand ist hier, hier in der Wohnung!
Unwillkürlich hielt sie den Atem an – und in der vollkommenen Stille glaubte sie, einen fremden Atem zu hören, sehr leise, doch eindeutig hinter ihr. Sie wagte nicht, sich umzuwenden, doch ihr Verstand zog den einzig möglichen Schluss: Irgendjemand war durch das offene Fenster in die Wohnung eingedrungen und stand jetzt wahrscheinlich hinter der Tür, die vom Schlafzimmer zum Wohnzimmer führte. Die sparsame Möblierung der Räume bot kein anderes Versteck.
Handy,
dachte Lea fieberhaft.
Wo ist mein Handy …
Mit Schrecken fiel ihr ein, dass sie es auf dem Nachtschrank im Schlafzimmer liegen gelassen hatte. Um es zu holen, musste sie an dem Unbekannten vorbei. Was sollte sie tun? Im Augenblick kam sie sich wie ein Kaninchen vor, das angesichts der Bedrohung einfach erstarrte. Schon manches Mal, wenn sie etwas Ähnliches in einem Fernsehkrimi gesehen hatte, war ihr die Frage durch den Kopf gegangen, wie sie in einer solchen Situation reagieren würde. Doch die Frage war stets abstrakt geblieben, denn ihre Lüneburger Stadtwohnung lag im zweiten Stock, und sie war nie allein gewesen, denn David schlief nebenan.
Ganz ruhig jetzt!,
befahl sie sich selbst. Das Wichtigste war, jede Kurzschlusshandlung zu vermeiden. Wenn sie etwas Unüberlegtes tat oder gar um Hilfe rief, bestand die Gefahr, dass der Einbrecher seinerseits in Panik geriet und sie zum Schweigen brachte. Am besten tat sie so, als hätte sie keinen Verdacht geschöpft.
Lea zwang sich, ruhig zu atmen, vom Tisch zurückzutreten und das Bad anzusteuern, das neben der Wohnungstür lag. Dabei musste sie quer durch den Raum gehen, mit dem Rücken zu der Stelle, wo sie das Versteck des Eindringlings vermutete. Fünf Meter vielleicht – derWeg schien ihr unendlich lang, denn sie wagte nicht, ihre Schritte zu beschleunigen. Ihr Nacken prickelte.
Und wenn es ein Vergewaltiger ist?,
fragte die Stimme in ihrem Kopf.
Nein,
erwiderte Lea.
Er kam durchs Fenster und ging auf geradem Weg ins Wohnzimmer, während ich im Bett lag. Er hätte längst über mich herfallen können, wenn das seine Absicht gewesen wäre.
Sie erreichte das Bad, schlüpfte hinein und schloss die Tür von innen. Mit einem entschlossenen Ruck drehte sie den Schlüssel im Schloss. Dann ließ sie sich aufatmend gegen die Tür sinken und verharrte.
Ihre Erwartung wurde nicht enttäuscht: Schon im nächsten Augenblick hörte sie Geräusche aus dem Wohnzimmer. Füße tappten eilig über das Parkett, die Balkontür wurde entriegelt und aufgeschoben. Der Unbekannte ergriff die Flucht. Lea hörte ihn durch den Garten laufen, rund um das Haus zur Straßenseite. Rasch wechselte sie von ihrem Horchposten an der Tür zum Fenster, konnte jedoch nur einen undeutlichen Schatten erkennen, der sich rasch entfernte und mit der Dunkelheit verschmolz.
Lea ließ sich auf den geschlossenen Klodeckel sinken, um zu verschnaufen und nachzudenken. Ihr erster Impuls war, nach oben zu gehen und Kai zu wecken, der zweite, die Polizei zu rufen. Beides jedoch verwarf sie, nachdem sie Ordnung in ihre Gedanken gebracht hatte.
Das war kein gewöhnlicher Einbruch. Der Kerl ist an den Computer gegangen, um meine Mails zu lesen. Ich gehe
Weitere Kostenlose Bücher