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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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aufsuchen, da ich dringend einen Kaffee brauche. Im modernen Zugbistro tranken wir Filterkaffee. Die alten Leute lebten in Israel, wie sie erzählten, sie waren auf einer Tagung in Warschau gewesen und besuchten nun ihre Tochter und ihre Enkelkinder in Berlin. Als ich sagte, ich wäre in Archangelsk gewesen, konnte der Mann sein Erstaunen nicht verbergen und fragte mich: Weshalb fährt man denn heutzutage nach Archangelsk? Darauf wusste ich keine Antwort. Die alte Frau legte sanft die Hand auf die Hand des Mannes. Wir redeten über andere Dinge, über Polen und Deutschland, über die schöne Landschaft und über den Krieg, seit Ende des Krieges wäre er nicht mehr in Polen gewesen, erzählte der alte Mann, der ursprünglich aus Krakau stammte. Erst kurz vor Lichtenberg erfuhr ich, dass er sieben Jahre in einem sowjetischen Arbeitslager auf den Solowezki-Inseln bei Archangelsk verbracht hatte. Ich fragte genauer nach, doch der alte Mann meinte, er könne sich kaum an die Zeit erinnern, er habe alles vergessen, das Alter. Nein, im Grunde habe er dies alles schon viel früher vergessen.
    Als der alte Mann das Abteil verließ, um zu rauchen, erzählte mir die Frau, ihr Ehemann habe im Arbeitslager seine ganze Lebensgeschichte auf die Rückseite von abgelösten Streichholzschachtelpapierchen notiert. Diese auf Tausenden von Streichholzschachtelpapierchen notierte Geschichte sei aber auf der folgenden Odyssee durch Russland und Polen und Deutschland verloren gegangen. Zum Glück, vielleicht, sagte die Frau und nickte langsam. In Lichtenberg blieben die alten Leute erst etwas verunsichert auf dem sich leerenden Bahnsteig stehen, bis sie von Kindern und Enkeln begrüßt und umarmt wurden, die ihnen die schweren Koffer abnahmen.
    Vielleicht gibt es von allen Menschen zwei, sagte ich, mehr zu mir selber als zu Ella. Wir saßen nicht mehr auf dem Gerüst, sondern am Küchentisch. Einer legt sich unter sein Bett und erschießt sich, und der andere schreibt seine Geschichte auf hunderttausend Streichholzschachtelzettelchen und verliert sie dann auf der Reise.
    Wovon redest du, fragte Ella, was für eine Geschichte? Nicht so wichtig, antwortete ich. Hast du eigentlich ein Foto deiner Eltern in Archangelsk, fragte ich, um sie abzulenken. Nein, meinte Ella. Ehrlich gesagt, fügte sie hinzu, ich weiß noch nicht einmal, ob meine Eltern je in Archangelsk waren. Wahrscheinlich ist dies auch nur so eine Geschichte, die meine Mutter erzählte, eine der vielen Geschichten um meinen Vater, den ich nicht kennengelernt habe, da er meine Mutter kurz nach meiner Geburt verlassen hat.
    Das einzige Foto von Leo, das ich besitze, habe ich in Archangelsk gemacht. Sie trägt das gepunktete Kleid von mir, steht vor einer Datscha und pflückt giftige rote Beeren von einem Baum. Ich musste sie lange überreden, dieses Kleid anzuziehen. Leo sieht aus wie ein verkleideter Junge auf dem Foto. Sie sieht aus wie mein Bruder, als er noch jünger war und schmal wie ein Mädchen.

Schnee
    Ich sitze im Speisewagen, der im Gegensatz zu den überfüllten Abteilen halbleer ist, und trinke wässrigen Filterkaffee, vorüberziehendes Weiß hinter zerkratzten Scheiben. Gehört habe ich es längst, aber natürlich sage ich dies Sarah nicht, als ich sie anrufe. Ich wollte nur fragen, wie es dir geht, sage ich. Und: Lange nichts gehört. Sarah müsste es eigentlich auffallen, doch Sarah bemerkt gar nichts, Sarah sagt tatsächlich: Ach, komisch, dass du gerade jetzt anrufst. Ihre Stimme klingt seltsam weich. Wie um die Sache auf die Spitze zu treiben, sage ich: Neulich habe ich von dir geträumt. Ach, sagt Sarah, und dann erzählt sie es mir. Ich reagiere erstaunt, aber nicht entsetzt; in meiner Stimme kein Anzeichen davon, dass ich es längst weiß, kein Räuspern, kein kratzendes Geräusch, und das nervöse Zucken meines linken Augenlides bemerkt Sarah nicht, da sie mich nicht sehen kann, da sie weit weg ist, in der anderen Stadt. Meine etwas vorschnelle Freude und mein übertriebenes Erstaunen machen Sarah nicht misstrauisch. Die geheuchelte überdeckt die tatsächliche Freude, ich freue mich nämlich wirklich, wer hätte das gedacht. Sarah zumindest nicht. Ich bin so erleichtert, sagt sie nun, du glaubst es nicht, ich hatte Angst, es dir zu sagen, Angst, es würde etwas verändern zwischen uns.
    Ich frage mich, wann es angefangen hat. Ich sitze im Speisewagen, und alles ist wie immer. Außer dass das Rauchen im Speisewagen neuerdings verboten ist. Die wenigen anderen

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