Das Weltgeheimnis (German Edition)
die Eltern voller Sorge um ihre achtjährige Tochter Susanna, den sechsjährigen Friedrich und den erst drei Jahre alten Ludwig sind, rückt am 14. Februar die 12 000 Mann starke Passauer Armee in Prag ein, die zuvor bereits Oberösterreich und Böhmen verwüstet hat. Nach kurzem Kampf erobern die Soldaten die Kleinseite der Stadt, entwaffnen die Bürger, besetzen Häuser und plündern Geschäfte. Unterdessen stoßen Teile der Reiterei über die Karlsbrücke in die Altstadt auf der anderen Seite der Moldau vor.
Das Kepler’sche Wohnhaus hinter dem Brückenturm steht plötzlich im Zentrum der Kampfhandlungen. Vor vier Jahren ist der Mathematiker mit seiner Familie hierher gezogen, nachdem sie Prag zwischenzeitlich wegen der Pest für einige Monate verlassen mussten. Nun brechen neue Feinde ein: Krieg, Anarchie und abermals Seuchen.
Der Bürgergarde gelingt es gerade noch rechtzeitig, das Fallgitter des Altstädter Brückenturms herunterzulassen. Lediglich ein kleiner Reitertrupp der Passauer fällt in die Altstadt ein und wird unmittelbar vor Keplers Wohnhaus von der Miliz niedergemacht. Kurz darauf steht ganz Prag in Waffen.
Unbeschreiblich sei die Erbitterung der Bevölkerung gegen den Vorstoß der Soldaten gewesen, schreibt der Historiker Peter Ritter von Chlumecky. »Die Alt- und Neustädter verschanzten sich, richteten gegen die Kleinseite Kanonen … Es bot sich das seltene Schauspiel zweier Festungen dar, die, von einem breiten Strome getrennt, einander beschossen und wechselweise die Rolle von Belagerern und Belagerten zugleich übernommen hatten.«
Als bekannt wird, wie brutal die Passauer Soldaten auf der Kleinseite gegen die überwiegend protestantische Prager Bevölkerung vorgehen, kommt es auch in der Alt- und Neustadt zu gewaltsamen Übergriffen. Böhmische Heerhaufen, so Kepler, »aus Bauern zusammengelesen und eine drohende Haltung einnehmend«, durchkämmen die Stadt. Mit Mistgabeln und Piken bewaffnet, stürmen aufgehetzte Banden katholische Kirchen und Klöster, morden Jesuiten, Benediktiner und Franziskaner, denen man vorwirft, mit den Passauern unter einer Decke zu stecken.
Der Kaiser in seiner Burg auf dem Hradschin sieht tatenlos zu, wie die außer Kontrolle geratene Situation weiter eskaliert. Aus der Vogelperspektive schaut er hinunter auf den Altstädter Brückenturm, hinter dem sich Zehntausende bewaffnete Männer verbarrikadiert haben. Das mächtige Stadttor ist ihm einmal mehr ein Dorn im Auge.
Die Böhmen, die ihm keine zwei Jahre zuvor den Majestätsbrief abgetrotzt haben, geben sich erneut kämpferisch. Allerdings versucht die aufgebrachte Prager Bürgerschaft sofort, Verhandlungen mit dem Kaiser aufzunehmen. Rudolf II. jedoch kann sich weder dazu entschließen, den Landsknechten ihren Sold auszubezahlen und die ganze Horde zum Abzug zu bewegen, wozu ihm die Vertreter der Stadt sogar das Geld vorstrecken wollen, noch stellt er sich ganz hinter die Passauer Armee. Er möchte keinen Großangriff auf Prag erleben und die Stadt, die er selbst zu seiner Residenz gemacht hat, in Schutt und Asche sehen.
Am 19. Februar stirbt Keplers Sohn Friedrich. »Der Knabe war mit seiner Mutter so innig verbunden, dass man nicht sagen konnte, beide seien ›schwach vor Liebe‹, sondern vielmehr rasend vor solcher«, schreibt Kepler. »Und als sie eben wieder aufzuatmen schien, wurde sie … im Innersten getroffen durch den Tod des Knäbleins, der für sie die Hälfte ihres Herzens war.«
Die Kampfhandlungen dauern an, die Stadt ist streckenweise von der Versorgung mit Lebensmitteln abgeriegelt, das Fleckfieber, von Läusen übertragen, grassiert in der Bevölkerung. Die Prager Bürger schicken Botschafter nach Wien, um den Bruder des Kaisers, Matthias, um Hilfe zu rufen.
Nachdem die Passauer Truppen die eine Seite der Stadt vier Wochen belagert und geplündert haben, wacht der immer mehr in Bedrängnis geratene Kaiser endlich auf. Plötzlich hat er doch Geld genug, um den Söldnern einen Teil des Gehalts auszubezahlen und sie zum Abzug zu bewegen.
Kurz darauf rückt Matthias’ Heer in Böhmen ein. In zähen Verhandlungen einigt er sich mit den böhmischen Ständen auf eine Reform der Verfassung, im Mai muss Rudolf II., der sich als unfähiger Herrscher erwiesen hat, die böhmische Königskrone an seinen Bruder abtreten. Von nun an lebt der Kaiser wie ein Gefangener im eigenen Palast.
Kepler der seit geraumer Zeit vom Hof keinerlei Bezahlung bekommen hat, sieht sich genötigt, rasch zu
Weitere Kostenlose Bücher