Das Weltgeheimnis (German Edition)
Krisensituationen schreibt Kepler in Linz noch mehrere große Werke. 1617 geht der erste Band seines umfassenden astronomischen Lehrbuchs, der Epitome , in Druck. Darin stellt er seine Planetentheorie noch einmal in klarer Form dar.
Den zweiten Band hat er bereits begonnen, außerdem neue Planetentafeln erstellt, als seine Tochter Katharina schwer erkrankt. Das Mädchen, nach Keplers Mutter benannt, stirbt am 9. Februar 1618, wenige Monate zuvor hatten Susanna und Johannes Kepler bereits ihr erstes gemeinsames Töchterchen, Margareta Regina, zu Grabe tragen müssen. Von ihren insgesamt sieben Kindern wird nur ein einziges das Erwachsenenalter erreichen.
Den doppelten Verlust können die Eheleute nur schwer verwinden. »Ich legte daher die Tafeln beiseite, da sie Ruhe erfordern, und lenkte meinen Geist auf die Vollendung der Harmonik.« Mit dem Tod der beiden Kinder konfrontiert, versucht Kepler, über die Grenzen des Lebens hinauszuschauen. Im Bewusstsein der Vergänglichkeit sucht er die Einheit mit Gott und vertieft sich in Gedanken über eine vollkommene Ordnung des Kosmos. Binnen weniger Monate schreibt er seine Weltharmonik , deren Vorarbeiten bis in die Zeit in Graz zurückreichen und die auf einer ähnlichen Grundidee aufbaut wie sein Weltgeheimnis .
»O Du, der Du durch das Licht der Natur das Verlangen nach dem Licht Deiner Gnade in uns mehrest, um uns durch dieses zum Licht Deiner Herrlichkeit zu geleiten, ich sage Dir Dank, Schöpfer, Gott, weil Du mir Freude gegeben hast an dem, was Du gemacht hast, und ich frohlocke über die Werke Deiner Hände. Siehe, ich habe jetzt das Werk vollendet, zu dem ich berufen ward.«
Es ist die Sprache eines Mystikers, der die Herrlichkeit der göttlichen Schöpfung preist, die sich in der Musik genauso widerspiegele wie in den Bewegungen der Planeten. Die Weltharmonik ist eine kosmische Zusammenschau unter dem Primat der reinen Geometrie. Sie eröffnet dem Leser eine Welt der regulären Figuren, der fünf-, sieben- und zwölfeckigen Vielecke und Sterne, darunter solche, mit denen sich eine Ebene lückenlos parkettieren lässt.
Aus der Geometrie regelmäßiger Polygone leitet er alle möglichen konsonanten musikalischen Intervalle ab: von der großen und kleinen Terz über die Quarte, Quinte, große und kleine Sexte bis zur Oktave. Kepler studiert die Harmonien in der Musik, kommt zu den Urbildern der universellen Harmonien, die der Mensch in sich trage, springt zur Astrologie und den Wirkungen ihrer Aspekte auf die menschliche Seele.
Erst im letzten Teil verwandeln sich auch die Bewegungen der Planeten in eine fortwährende, mehrstimmige Musik, die zwar nicht durch das Ohr, wohl aber durch den Geist erfassbar sei. Der unermessliche Ablauf der Zeit wird so zu einer einzigen großen Symphonie. Das Buch, ganz gleich ob für die Gegenwart oder die Nachwelt geschrieben, »möge hundert Jahre seines Lesers harren, hat doch auch Gott sechs Jahrtausende auf den Beschauer gewartet«. Nämlich auf ihn, Kepler.
Die Weltharmonik bleibt ein singuläres Werk. Weder Musik- noch Naturwissenschaftler werden an Keplers harmonische Spekulationen anknüpfen. Dennoch findet sich ausgerechnet hier, verborgen zwischen Fünfecksternen und Doppeloktaven, jene Zauberformel, aus der Isaac Newton das Gravitationsgesetz ableiten wird: Keplers »drittes Planetengesetz«, das die Umlaufzeiten zweier Planeten und ihre mittleren Abstände von der Sonne in ein festes Verhältnis setzt.
Kepler entdeckt das Gesetz am 15. Mai 1618. Augenblicklich besiegt es die Finsternis seines Geistes, »wobei sich zwischen meiner siebzehnjährigen Arbeit an den tychonischen Beobachtungen und meiner gegenwärtigen Überlegung eine so treffliche Übereinstimmung ergab, dass ich zuerst glaubte, ich hätte geträumt und das Gesuchte in den Beweisunterlagen vorausgesetzt. Allein es ist ganz sicher und stimmt vollkommen.«
Die Formel, in einem Moment äußerster Klarheit aufgetaucht, scheint auf geheimnisvolle Weise mit seinen Gedanken zum pythagoreischen Musiksystem verbunden zu sein. Vielleicht ist es kein Zufall, dass das Verhältnis von 3 zu 2 für das Intervall der Quinte den Exponenten seiner für die Nachwelt so wertvollen astronomischen Gleichung bestimmt. Während sich Kepler über sein aus geometrischen Mustern zusammengesetztes Parkett bewegt, macht er eine gedankliche Pirouette, plötzlich dreht sich alles um ein bestimmtes Zahlenverhältnis. Sein ganzes astronomisches Wissen strömt in diesen Wirbel hinein
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