Das Weltgeheimnis (German Edition)
geändert worden ist. Galilei wäre wohl kaum von der Nachwelt für ein Werk derart gefeiert worden, das schon auf dem Buchdeckel eine falsche Behauptung propagiert. Neu betitelt dagegen kann der Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische von der Wissenschaft als pro-kopernikanische Schrift hochgehalten und gegen die Ignoranz der Kirche gewendet werden.
Im Strom der Gezeiten
Seinen größten Trumpf hat Galilei erst im Schlussteil des Dialogs ausgespielt. In ihm blickt er auf seine Zeit in der Lagunenstadt Venedig zurück, wo Gassen und Plätze bei Flut immer wieder unter Wasser stehen. Seither hat ihm das Phänomen viel Kopfzerbrechen bereitet. Wie es zu den Gezeiten kommt, erläutert er am Beispiel jener Transportschiffe, die Süßwasser nach Venedig bringen.
Salviati: »Stellen wir uns vor, eine solche Barke komme mit mäßiger Geschwindigkeit durch die Lagune und fahre das Wasser, womit sie beladen ist, ruhig dahin. Nun aber erleide sie eine merkliche Verringerung der Geschwindigkeit, sei es, dass sie aufs Trockene aufläuft oder sich sonst ein Hindernis ihr in den Weg stellt. Dann wird das in der Barke befindliche Wasser nicht sofort, wie diese selbst, den erlangten Antrieb verlieren, sondern ihn beibehalten und vorne nach dem Bug hinströmen; dort wird es merklich steigen.«
Galilei sieht völlig richtig, dass auch das Wasser in den Meeresbecken einem Geschwindigkeitswechsel nicht so rasch folgen kann wie die feste Erde. Es staut sich dort, wo Flut herrscht. Aber wodurch wird die Beschleunigung verursacht? Galilei meint, die Lösung dafür direkt im kopernikanischen System finden zu können: Die Erde dreht sich von West nach Ost um ihre eigene Achse. Währenddessen wandert sie auch auf ihrem Kurs um die Sonne weiter. Galilei hat den originellen Einfall, dass sich diese beiden Geschwindigkeiten auf der sonnenfernen Seite der Erde addieren, während das Wasser auf der sonnennahen Seite auf die Differenz aus Bahngeschwindigkeit und Rotationsgeschwindigkeit reagiert. Auf diese Weise, denkt er, entstehe eine periodische Beschleunigung und Verzögerung an der Erdoberfläche.
Galilei versucht, Ebbe und Flut allein aus seiner Bewegungslehre heraus zu erklären – obschon sein Modell ganz offensichtlich nicht zu den Erfahrungstatsachen passt. Zum Beispiel verspätet sich die Flut von Tag zu Tag um fünfzig Minuten. Das ist dieselbe Zeit, um die sich der Aufgang des Mondes von einem Tag zum nächsten verzögert – ein klarer Hinweis auf den Einfluss des Erdtrabanten. Kepler hat die Gezeiten nicht zuletzt deshalb auf eine Anziehungskraft des Mondes zurückgeführt. In Galileis Theorie gibt es für diese regelmäßige Verzögerung keine Erklärung. Sie widerspricht nahezu allen bekannten Gezeitenphänomenen.
»Dass nach seiner Theorie täglich nur einmal Flut und Ebbe auftreten sollte, übersieht Galilei natürlich nicht«, hält der Physiker Ernst Mach fest. »Er täuscht sich aber über die Schwierigkeiten hinweg.« Die komplizierte Form der Meeresbecken und die Eigenschwingungen des Wassers lassen ihm einigen Spielraum für entsprechende Ausflüchte.
Hätte er sich je auf eine Debatte mit Kepler über die Gezeiten eingelassen, die dieser schon 1597 suchte, wären sie vielleicht gemeinsam einer Lösung nähergekommen. Beide haben entscheidende Fährten aufgenommen. Erst Isaac Newton wird zu der Einsicht gelangen, dass die von Kepler eingeführten Anziehungskräfte im Sonnensystem eben die von Galilei gesuchten Beschleunigungen hervorrufen. Albert Einstein wird schließlich noch einen Schritt weiter gehen: Seine Erkenntnis, dass Gravitation und beschleunigte Bewegung einander äquivalent sind, ist ein Schlüssel zur Allgemeinen Relativitätstheorie.
Angesichts solcher Entwicklungen fragt man sich, wohin ein Gedankenaustausch die beiden Protagonisten der neuzeitlichen Wissenschaft geführt hätte. Wie hätte ein kreativer Geist wie Kepler, der vor den kompliziertesten mathematischen Berechnungen nicht zurückschreckte, wohl reagiert, wenn Galilei ihn mit seiner Bewegungslehre konfrontiert hätte?
Man kann sich wunderbare Debatten ausmalen, ähnlich wie die zwischen Albert Einstein und Niels Bohr, die die Wissenschaft bis heute beflügeln. Aber die historische Chance verstreicht ungenutzt. Stattdessen greift Galilei zu einem Mittel, das Wissenschaftler häufig einsetzen, wenn sie ihr eigenes fragiles Gedankengebäude nicht gefährden und über neue Ideen wie
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