Das Weltgeheimnis (German Edition)
die Verbindung zwischen Musik und Theater in der griechischen Antike geklungen haben könnte. Wie haben sich die Sänger damals auf ihre Rollen vorbereitet? Wie haben die Rhapsoden verschiedene Personen mit musikalischen Mitteln charakterisiert und individuelle Gefühle zum Ausdruck gebracht?
Vincenzo komponiert Sprechgesänge, die er in Bardis Salon vorträgt, und schlägt von ihnen aus eine Brücke zu den zeitgenössischen Theateraufführungen der Commedia dell’arte. Als Galileo siebzehn ist, schreibt sein Vater seinen bedeutenden Dialog über die alte und neue Musik . Darin habe er das vorweggenommen, was zwanzig Jahre später der Ausgangspunkt für die Entstehung der Oper werden sollte, erzählt die Musikwissenschaftlerin Silke Leopold. Mehr und mehr wird Vincenzo zum Verfechter einer expressiven Musik, die mit den strengen Kompositionsregeln, wie sie an den Universitäten gelehrt werden, nicht mehr in Einklang zu bringen ist. Er vertritt die Ansicht, dass bei der Vertonung der Dichtung auch unkonventionelle Mittel erlaubt sein müssen.
An den Hochschulen ist die Musik im 16. Jahrhundert ein Zweig der Mathematik. Im Bildungskanon der freien Künste steht sie nicht von ungefähr neben Astronomie, Arithmetik und Geometrie, denn dieselbe harmonische Ordnung, die die regelmäßigen Vorgänge am Himmel charakterisiert, spiegelt sich in der irdischen Musik wider. Diesen traditionellen Gedanken wird Johannes Kepler in seiner Weltharmonik noch einmal zu einer großartigen kosmischen Gesamtschau ausbauen. Kepler wird sich dabei in manchen Aspekten sogar auf das Werk Vincenzo Galileis berufen, obschon dieser eine völlig andere Auffassung von Musik hat und damit beginnt, die Idee der Kunst neu zu definieren.
Grundlegend für die klassische Musiktheorie ist die antike Vorstellung der Pythagoreer, nach der sich musikalische Intervalle durch einfache Zahlenverhältnisse ausdrücken lassen. So ergibt sich zum Beispiel das Verhältnis der Oktave von 1 zu 2 dadurch, dass man die Saite einer Laute genau auf die Hälfte verkürzt. Bei der Quinte sind es genau zwei Drittel der ursprünglichen Länge, bei der Quarte beträgt das Verhältnis 3 zu 4.
Dem angesehenen Kapellmeister des Markusdoms in Venedig, Gioseffo Zarlino, bei dem auch Vincenzo studiert hat, genügen die ersten sechs natürlichen Zahlen, um aus ihnen eine Theorie konsonanter Intervalle zu entwickeln und einfache Kompositionsregeln abzuleiten. Zarlino ist im 16. Jahrhundert die unumstrittene Autorität auf diesem Gebiet, und Vincenzo ist einer der wenigen, wenn nicht sogar der Einzige, der es wagt, ihm laut zu widersprechen.
Warum Zarlinos Theorie ins Abseits führt, wie Vincenzo richtig sieht, lässt sich unter anderem mathematisch und besonders prägnant am Beispiel des Quintenzirkels begründen:
Wer auf der Tonleiter jeweils um eine Quinte weiterspringt – also in den Schritten C-G-D-A-E-H-FIS/Ges-Des-As-Es-B-F-C –, der landet nach zwölf Sprüngen wieder beim C. Dieses C liegt der Abfolge nach genau sieben Oktaven höher als das C, mit dem der Zirkel begonnen hat. Den sieben Oktavsprüngen entspricht die pythagoreische Folge von 1 zu 2 zu 4 zu 8 zu 16 zu 32 zu 64 zu 128.
Zwölf Quinten müssten also zu exakt demselben Zahlenverhältnis führen. Dem ist jedoch nicht so. Multipliziert man das pythagoreische Zahlenverhältnis von 2 zu 3 für die Quinte zwölf Mal mit sich selbst, ergibt sich ein enttäuschend krummer Wert von 1 zu 129,746. Der kleine, aber hörbare Unterschied zwischen 1 zu 129,746 und 1 zu 128, um die der Zirkel von zwölf Quinten größer ist als sieben Oktaven, das sogenannte pythagoreische Komma, bringt die ganze mathematische Notenleiter durcheinander: Der Quintenzirkel schließt sich in der Theorie der einfachen Zahlenverhältnisse nicht.
Vincenzo legt die Inkonsistenzen des seinerzeit gängigen Systems an anderen Beispielen offen und stützt seine Argumente mit Experimenten, bei denen er Saiten unterschiedlicher Dicke und aus verschiedenen Materialien testet. Er wirft Zarlino vor, sich wider besseren Wissens über solche Ungereimtheiten auszuschweigen, und errechnet selbst ein neues Zahlenverhältnis für die Halbtonabstände. Damit kommt er der modernen, temperierten Stimmung nahe, die auf irrationalen Zahlen aufbaut.
Doch eigentlich soll die Mathematik seiner Ansicht nach in der musikalischen Praxis gar nicht über die Tauglichkeit oder die Unzulänglichkeit von Intervallen entscheiden, sondern allein das menschliche Ohr. Die
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