Das Weltgeheimnis (German Edition)
antiken Lehrmeinungen mit eigenen Augen zu überprüfen? In ähnlicher Weise vermisst Galilei den Himmel mit dem Fernrohr und seziert das traditionelle geozentrische Weltbild in vielen Facetten.
Allerdings ist der Empirismus, der Keplers Neuer Astronomie zugrunde liegt, nicht weniger bewundernswert. Als Mathematiker hat er in mühseliger Rechenarbeit die jahrzehntelangen Planetenbeobachtungen ausgewertet, die Tycho Brahe zuvor mit seinen Präzisionsinstrumenten gewonnen hatte. Mithilfe dieser Daten hat Kepler die Astronomie endlich von der verwirrenden Vielzahl ineinander geschachtelter Sphären und Kreise befreit und jedem Planeten eine einzelne, mathematisch bestimmte und physikalisch begründete Bahn um die Sonne zugewiesen.
Erkennt Galilei die Bedeutung von Brahes einzigartiger Datensammlung nicht? Warum knüpft er nicht an Keplers wegweisende Arbeit an? Wieso begnügt er sich selbst sogar mit einem kopernikanischen Modell, das den Beobachtungen schlicht nicht gerecht wird?
Galilei geht eigene Wege. Anders als Kepler ist er nicht in der klassischen Astronomie zu Hause, sondern in der Mechanik. Aus ihr schöpft er physikalische Konzepte, die mit denen Keplers nicht in Einklang zu bringen sind und die für seine eigenen Gedanken über den Aufbau des Weltalls maßgebend sind.
Galilei und Kepler gelangen zu völlig verschiedenen Auffassungen der kopernikanischen Theorie. In ihren individuellen Denkansätzen und Motiven, ihrer jeweiligen Herkunft und Inspiration spiegeln sich auf besondere Weise die Umbrüche der Wissenschaft an der Schwelle zum 17. Jahrhundert. Die Briefe, die sie miteinander wechseln, gehören zu einem faszinierenden Mosaik von der Entstehung der neuzeitlichen Forschung, in dem noch etliche Steine fehlen.
Teil II
DER ITALIENER UND DER DEUTSCHE
DER LAUTENSPIELER
Musik und Mathematik im Hause Galilei
Vincenzo Galilei ist Anfang vierzig, als er sich in der alten See- und Handelsstadt Pisa niederlässt. Als Musiker ist die Stadt für ihn nicht gerade erste Wahl. Zwischenzeitlich zu einem versumpften Provinznest herabgesunken, leidet Pisa immer noch unter einem schlechten Ruf. Bis vor Kurzem schickte man wegen der Krankheitsgefahr sprichwörtlich »nur seine Feinde« hierher.
Inzwischen residiert immerhin der toskanische Hof jedes Jahr für einige Monate in der Stadt. Cosimo I. hat die Sümpfe trockenlegen und die häufig überfluteten Uferpromenaden des Arno befestigen lassen, die Universität wurde wiedereröffnet und ein Botanischer Garten – eine völlige Neuheit in Europa – angelegt. Die Piazza dei Miracoli, der Platz der Wunder, das glanzvolle architektonische Ensemble aus »Schiefem Turm«, Dom und Baptisterium, liegt wieder im Herzen einer pulsierenden Stadt. Mit ihren rund 10 000 Einwohnern ist Pisa nach Florenz die zweitgrößte in der Toskana.
Hier versucht Vincenzo Galilei, sich eine Existenz als Musiklehrer aufzubauen. Er hat seine berufliche Laufbahn als Lautenspieler begonnen. Aus einer alteingesessenen Patrizierfamilie stammend, haben sich für ihn ganz selbstverständlich jene Verbindungen zur Florentiner Aristokratie ergeben, die seiner Karriere förderlich gewesen sind. Nun erteilt er Studenten und Adligen in Pisa regelmäßigen Unterricht und pflegt weiterhin seine Kontakte zum Hof.
Der Hauptgrund für seinen Wohnortwechsel dürfte die Hochzeit mit Giulia Ammanati gewesen sein, die aus Pescia stammt und deren Verwandten teilweise in Pisa leben. Giulia ist deutlich jünger als er und hat es vermutlich nicht leicht mit ihrem Mann, dessen Leidenschaft für die Musik vieles in den Hintergrund drängt: ständig ist er auf Tour, und seine Kompositionen widmet er anderen Frauen.
Als Komponist hat Vincenzo eine Vorliebe für volkstümliche Melodien, die er mit anspruchsvollen literarischen Texten von Dante, Petrarca oder Ariost verbindet. Diese Art von Gesang ist am Hof der Medici beliebt, die Vertonung von Dichtung ein viel diskutiertes Thema an den Florentiner Akademien. Vincenzo beteiligt sich lebhaft an solchen Debatten. Anders als die meisten seiner Berufskollegen beherrscht er nicht nur sein Instrument meisterhaft, ihn interessiert auch die Musiktheorie.
1563, im Jahr nach seiner Hochzeit mit Giulia, wird sein erstes Buch zur Lautenmusik gedruckt. Es ist eine Sammlung von dreißig, teils selbst komponierten Stücken, die er Alessandro de’ Medici widmet, um sich für die Unterstützung zu bedanken, die ihm dessen Familie gewährt hat. Arm, wie er nun einmal sei, habe
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