Das Weltgeheimnis (German Edition)
ab.
Die Mathematik wird ihm ein Leben lang den Rücken stärken. Seine Sicherheit und seine Überzeugungen wachsen auf dem Boden quantitativer Begriffe. Je mehr es ihm gelingt, Beobachtungen und Erfahrungen in die ihm vertraute Sprache der Geometrie zu übersetzen, umso besser kann er zwischen bloß überliefertem Wissen und geprüften Erkenntnissen unterscheiden.
»ICH WOLLTE THEOLOGE WERDEN«
Keplers Weg vom Soldatensohn zum Mathematiklehrer
Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches ist katholisch, der württembergische Landesfürst protestantisch. Die freie Reichsstadt Weil wiederum hat eine überwiegend katholische Bevölkerung, in der Johannes Keplers Eltern zur protestantischen Minderheit gehören. Und beschränkt man sich nicht auf seine nächsten Angehörigen, wird die Lage noch unübersichtlicher: Die religiösen Gräben gehen mitten durch die Familie.
Johannes Kepler wird 1571 in einem Land geboren, das konfessionell völlig zersplittert ist. Der katholische Kaiser residiert im fernen Wien. Es ist noch nicht lange her, da hat er die Tausendseelenstadt Weil für ihre Religionstreue belohnt. Weil, Wile, Wyle, Weil der Stadt oder Weilerstadt ist eine von mehr als zwei Dutzend freien Reichsstädten im Schwäbischen, die direkt dem Kaiser unterstellt sind. Von ihm hat sie das besondere Recht zugesprochen bekommen, Wegezoll einzutreiben: sechs Pfennige für jeden geladenen Wagen, vier für jeden Karren. Mit den Einnahmen können die Bürger von Weil ihre Straßen ordentlich pflastern und Brücken instand setzen. An den drei bewachten Toren der rundum ummauerten Stadt hängt zudem eine Zolltafel mit allen sonstigen Abgaben, die den Kaufleuten hier abverlangt werden: Zölle auf Salz und Leder, Fruchtzoll, Schmalzzoll, Tuchzoll, Herdzoll.
Die Keplers wohnen unmittelbar am Marktplatz, der Blick auf die imposante spätgotische Hallenkirche ist zu jener Zeit noch nicht durch das wenig später erbaute Rathaus verdeckt. Es ist ein katholisches Gotteshaus. Für die Lutheraner in Weil gibt es dagegen innerhalb der Stadtmauern keine Kirche, weder einen Geistlichen noch eine eigene Schule.
Vergeblich kämpfen sie um eine Ausweitung ihrer religiösen Rechte. Zwar steht der württembergische Herzog auf ihrer Seite und verhängt mehrfach einen Wirtschaftsboykott gegen Weil, um der Forderung Nachdruck zu verleihen, aber die katholische Ratsmehrheit lässt sich nicht umstimmen. Um eine lutherische Predigt zu hören, müssen sich Keplers Eltern und Großeltern auf den Weg nach Schafhausen oder in eine andere Nachbargemeinde machen.
Die religiösen Verhältnisse in Weil sind so verwickelt wie fast überall im Reich. Manch einer wechselt die Konfession, ein anderer ist gläubig bis zum Fanatismus; einerseits wächst der Anteil der Protestanten, weil mit jeder größeren Pestwelle ein zweistelliger Prozentsatz der Stadtbevölkerung stirbt und neue Bürger aus dem Umland aufgenommen werden, die meist evangelisch sind, andererseits wird die Gegenreformation in Weil der Stadt immer stärker.
Ihre kaiserlich honorierte Religionstreue hindert die Katholiken in Weil übrigens nicht daran, in Glaubensfragen hin und wieder eigene Wege zu gehen. So erlauben sie ihrem Pfarrer Jakob Möchel, seine langjährige Geliebte zu heiraten, und richten sogar eine öffentliche Hochzeitsfeier für ihn aus. Zufrieden mit der neuen Regelung, beschließt der Rat in den 1580er-Jahren, den Zölibat ganz aufzuheben und künftig nur noch »beweibte« Priester anzustellen. Der Bischof von Speyer mag darüber zürnen, erst einmal ist er machtlos.
Trotz katholischer Mehrheit stellen die Protestanten in Weil einen Großteil der finanzkräftigen Oberschicht, zu der auch Sebald Kepler gehört, Johannes’ Großvater. Er handelt mit Eisen, Nägeln, Farben, Kerzen und Tuchwaren, an seinen gut gehenden Laden am Marktplatz, gleich unterhalb des Brunnens, ist eine Schankwirtschaft angeschlossen.
Um 1570 wird Sebald Kepler vom Rat zum Bürgermeister von Weil der Stadt gewählt, ein Ehrenamt, das er etwa neun Jahre lang bekleiden wird. Johannes Kepler charakterisiert den Großvater später als »anmaßend im Auftreten, hochgetragen in der Kleidung, jähzornig, hartnäckig, beredt, mehr bei anderen als bei sich selbst auf Befolgung weiser Lehren bedacht«. Ob Sebald Kepler und seine »religiös übereifrige« Frau dafür Sorge tragen, dass ihr Enkelkind zur Taufe zu einem protestantischen Geistlichen gebracht wird? Oder wird der Junge von einem katholischen
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