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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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Natur möglicherweise doch Sprünge machte, auch wenn es vielleicht nur kleine Hüpfer und Hopser waren. In der Natur vollzogen sich Veränderungen, Umformungen. Allein die Hunde- und Schafzucht zeigte dies, und auch hier am Waldrand von White Acre, wo die territorialen Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Mooskolonien einem steten Wandel unterlagen, konnte man dieses Phänomen beobachten. Alma verfügte über einige Erklärungsansätze, doch es wollte ihr einfach nicht gelingen, sie zu einem Ganzen zusammenzufügen. Sie war sich sicher, dass einige Dicranum -Arten aus anderen, älteren Arten hervorgegangen waren. Sie war sich sicher, dass Kolonien voneinander abstammen oder sich gegenseitig ausrotten konnten. Wie es geschah, war ihr bislang verschlossen geblieben, doch sie glaubte fest daran, dass es geschah.
    Alma spürte ein Ziehen in der Brust, jenes altvertraute Gefühl von Dringlichkeit und Tatendrang. Für die Arbeit an den Kalkfelsen blieben ihr an diesem Tag nur noch zwei Stunden, dann würde der Vater nach ihr verlangen. Sie brauchte Zeit, viel mehr Zeit, wenn sie ihre Studien mit dem gebührenden Ernst vorantreiben wollte. Es würde ihr immer an Zeit fehlen. Allein in dieser Woche hatte sie bereits so viele Stunden verloren. Gab es eigentlich irgendjemanden auf dieser Welt, der nicht glaubte, über Almas Zeit verfügen zu dürfen? Wie sollte sie sich unter solchen Gegebenheiten jemals der wissenschaftlichen Forschung verschreiben?
    Beim Betrachten der untergehenden Sonne beschloss Alma, dass sie Prudence keinen Besuch abstatten würde. Sie hatte einfach keine Zeit dafür. Auch würde sie Arthurs jüngstes Pamphlet für die Abschaffung der Sklaverei am besten gar nicht erst lesen. Wie hätte Alma den Dixons auch beistehen sollen? Ihre Schwester wollte weder ihre Meinung hören noch ihre Hilfe annehmen. Alma empfand Mitleid mit Prudence, doch ein Besuch hätte, wie alle bisherigen, nichts als Unbehagen verursacht.
    Sie wandte sich wieder den Felsen zu, zückte das Maßband und beeilte sich, ihre Mooskolonien zu vermessen. Hastig notierte sie die Zahlen.
    Nur noch zwei Stunden.
    Vor ihr lag so viel Arbeit.
    Arthur und Prudence Dixon würden lernen müssen, besser auf sich selbst achtzugeben.

Kapitel 14
    Im selben Monat erhielt Alma eine Nachricht von George Hawkes, der sie in die Arch Street bat, um seiner Druckerei einen Besuch abzustatten und sich etwas ganz und gar Außergewöhnliches anzusehen.
    »Um Ihrem ungläubigen Staunen nicht vorzugreifen, ziehe ich es vor, an dieser Stelle keine weiteren Einzelheiten zu verraten«, schrieb er. »Ich glaube, dass es Ihnen Freude bereiten wird, sich alles in einem Moment der Muße mit eigenen Augen anzusehen.«
    Nun, in Almas Leben gab es keine Mußestunden, was sich bei George im Übrigen nicht anders verhielt, und allein deshalb empfand sie seine Nachricht als einmaligen Vorgang. In der Vergangenheit hatte George sie nur in verlegerischen Angelegenheiten kontaktiert oder in Retta betreffenden Notfällen. Seit Rettas Unterbringung in der Irrenanstalt gab es derlei Notfälle nicht mehr, und zurzeit arbeiteten George und Alma an keinem gemeinsamen Buch. Was mochte also derart dringlich sein?
    Neugierig nahm sie eine Kutsche in die Arch Street.
    Sie fand George in einem Hinterzimmer, tief über einen langen Tisch gebeugt. Als Alma näher trat, erkannte sie, dass der Grund für ihr Kommen eine atemberaubende Sammlung von Orchideen-Bildern war, ganze Stapel von Gemälden, Lithographien, Zeichnungen und Radierungen.
    »Es sind die schönsten Arbeiten, die ich jemals gesehen habe«, lautete Georges Begrüßung. »Sie sind gestern aus Boston gekommen. Eine merkwürdige Geschichte. Schauen Sie, es sind wahre Meisterwerke!«
    George reichte Alma die Lithographie einer gesprenkelten Catasetum -Orchidee. Ihre Darstellung war so prachtvoll, dass die Blume aus dem Papier herauszuwachsen schien. Ihre gelben, rot gesprenkelten Lippen schimmerten lebendig und feucht. Die Blätter waren fleischig, üppig, und die Wurzelknollen muteten so echt an, als ließe sich noch Erde von ihnen abschütteln. Alma hatte noch nicht aufgehört zu staunen, da gab ihr George bereits die nächste Graphik, eine überwältigende Peristeria barkeri , deren goldene, pralle Blütentrauben nur so vor Leben strotzten. Wer auch immer diese Lithographie koloriert hatte, war ein Meister der Farbe und ihrer Textur; die Blütenblätter wirkten so weich wie ungeschorener Samt, und das an den Spitzen

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