Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
aufgebrachten Mob«, erwiderte Prudence ungerührt.
»Nun, das wird sich möglicherweise bald ändern!« Empört drückte er ihr den Drohbrief in die Hand, den sie ohne äußere Regung las. »Eins sage ich dir, Prudence, es wird mir keine Freude sein, in den verkohlten Überresten eines zerstörten Wirtschaftsgebäudes meine Geschäfte zu führen. Was sind das für Spielchen? Was denkst du dir dabei? Warum stellst du dich in den Zeitungen derart zur Schau? Wo ist deine Würde? Beatrix hätte so ein Verhalten nicht gebilligt.«
»Ich bin stolz darauf, dass meine Worte schriftlich festgehalten wurden«, entgegnete Prudence. »Und ich würde voller Stolz wieder dieselben Worte äußern, vor jedem Zeitungsmann dieser Welt.«
Ihr lag offensichtlich nichts daran, die Situation zu entschärfen.
»Du kommst in Lumpen hierher«, schimpfte Henry mit immer erbosterer Stimme. »Ohne einen Penny in der Tasche – trotz meiner Großzügigkeit. Du kommst aus der Hölle des Elends, in die dich dein mittelloser Mann gebracht hat, um deine Armut vor uns zur Schau zu stellen und uns in dein Jammertal hineinzuziehen. Du mischst dich in Dinge ein, in die du dich nicht einmischen solltest, du stachelst zum Aufruhr an in einer Sache, die diese Stadt zerreißen und mein Geschäft zerstören wird! Noch dazu ohne jeden Grund! In Pennsylvania gibt es keine Sklaverei, Prudence! Warum reitest du überhaupt darauf herum? Soll der Süden doch zusehen, wie er mit seinen Sünden zurechtkommt!«
»Ich bedaure, dass du meine Überzeugungen nicht teilst, Vater«, sagte Prudence.
»Deine Überzeugungen sind mir schnurz. Aber ich schwöre dir, wenn meine Lagerhäuser Schaden nehmen …«
»Du bist ein einflussreicher Mann«, unterbrach ihn Prudence. »Dein Wort könnte dieser Sache nützen, und dein Geld könnte in unserer sündhaften Welt sehr viel Gutes tun. Ich rufe dein Herz als Zeugen an –«
»Ach, vergiss mein verfluchtes Herz! Du machst jedem hart arbeitenden Geschäftsmann in dieser Stadt das Leben zur Hölle!«
»Was soll ich also tun, Vater?«
»Den Mund halten, Mädchen, und dich um deine Familie kümmern.«
»Die Leidenden sind meine Familie.«
»Zum Teufel, erspar mir deine verfluchten Moralpredigten – nein, das sind sie nicht. Die Menschen in diesem Zimmer sind deine Familie!«
»Nicht mehr als andere auch«, sagte Prudence.
Dieser letzte Satz brachte Henry ins Stocken. Er raubte ihm buchstäblich den Atem. Auch für Alma war es ein Schlag ins Gesicht. Ihre Augen brannten mit einem Mal, als hätte ihr jemand einen Hieb auf den Nasenrücken versetzt.
»Du betrachtest uns nicht als deine Familie?«, fragte Henry, kaum dass er sich wieder gefangen hatte. »Nun gut. So entlasse ich dich also aus dieser Familie.«
»Aber Vater, du kannst doch nicht …«, protestierte Alma in blankem Entsetzen, doch Prudence fiel ihrer Schwester mit einer Replik ins Wort, so ruhig und auf den Punkt genau formuliert, als wäre sie jahrelang einstudiert worden. Und vielleicht war das ja auch so.
»Wie du wünschst«, antwortete Prudence. »Aber wisse, dass du eine Tochter deines Hauses verweist, die dir stets ergeben war und ein Anrecht darauf hat, nach Zärtlichkeit und Mitgefühl des Mannes zu trachten, den sie, soweit ihre Erinnerung reicht, ›Vater‹ genannt hat. Es ist nicht nur grausam, sondern wird, so glaube ich, deinem Gewissen Qualen auferlegen. Ich werde für dich beten, Henry Whittaker. Und in meinen Gebeten werde ich Gott fragen, was mit der moralischen Gesinnung meines Vaters geschehen ist – falls er jemals eine hatte.«
Henry sprang auf und schlug außer sich vor Wut mit beiden Fäusten donnernd auf den Tisch.
»Du kleine Idiotin!«, brüllte er. »Natürlich hatte ich nie eine!«
•
So war es zehn Jahre zuvor geschehen, und seitdem hatte Henry seine Tochter Prudence nicht mehr gesehen, wie auch Prudence keinen Versuch unternommen hatte, Henry zu sehen. Sogar Alma hatte ihre Schwester seit damals lediglich einige Male besucht – sporadische, angestrengte Demonstrationen von Zuwendung, bei denen sie vermeintlich spontan im Hause Dixon vorbeischaute. Unter dem Vorwand, ohnehin in der Gegend gewesen zu sein, kam sie mit kleinen Geschenken für ihre Nichten und Neffen vorbei oder brachte ihnen für die Weihnachtstage einen Korb Leckereien. Alma wusste, dass ihre Schwester diese Geschenke an eine bedürftigere Familie weitergeben würde, doch sie wollte dennoch nicht auf diese Gesten verzichten. Zu Beginn des familiären
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