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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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Bewunderung entgegenzubringen. Nachdem ich Ihre Orchideen gesehen habe, werden mir sämtliche Zeichnungen, Gemälde und Lithographien, die die Welt zu bieten hat, glanzlos, trist und fade erscheinen. Ich nehme an, dass Sie in Kürze nach Philadelphia reisen werden, um mit meinem teuren Freund George Hawkes an der Publikation eines Buches zu arbeiten. Ich frage mich, ob ich Sie während Ihres Aufenthaltes in unserer Stadt zu einem ausgedehnten Besuch nach White Acre bitten dürfte, auf das Anwesen meiner Familie? Unsere Gewächshäuser sind mit einer Fülle von Orchideen ausgestattet, von denen einige in der Realität beinahe so schön sind wie die Ihren auf dem Papier. Ich wage zu behaupten, dass sie Ihnen gefallen würden. Vielleicht könnten Sie sogar einige davon zeichnen. Jede unserer Blumen würde es als eine Ehre betrachten, von Ihnen porträtiert zu werden! Für meinen Vater und mich wäre es ohne jeden Zweifel ein außerordentliches Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Wenn Sie mich über Ihre voraussichtliche Ankunft unterrichten möchten, schicke ich gerne eine Privatkutsche zum Bahnhof, um Sie dort abholen zu lassen. Seien Sie gewiss, dass in unserer Obhut für sämtliche Bedürfnisse Ihrerseits gesorgt sein wird. Bitte fügen Sie mir kein neuerliches Leid zu, indem Sie mir eine Absage erteilen!
    Ihre sehr ergebene Alma Whittaker
    •
    Er traf Mitte Mai 1848 ein.
    Alma arbeitete gerade in ihrem Studierzimmer am Mikroskop, als sie die Kutsche vor dem Haus vorfahren sah. Ein großer, schlanker, rotblonder junger Mann in einem braunen Cordanzug stieg aus. Von weitem schien er allenfalls zwanzig Jahre alt zu sein, wiewohl Alma wusste, dass dies unmöglich war. Er trug nur einen kleinen Lederkoffer bei sich, der nicht allein aussah, als wäre er bereits mehrmals um die Welt gereist, sondern auch den Verdacht schürte, dass er sich binnen kurzem in Wohlgefallen auflösen würde.
    Anstatt sogleich hinauszugehen und ihren Gast zu begrüßen, beobachtete ihn Alma einen Augenblick lang. Im Laufe der Jahre hatte sie viele Menschen auf White Acre eintreffen sehen und die Erfahrung gemacht, dass alle Besucher, die zum ersten Mal kamen, das Gleiche taten: Sie blieben wie angewurzelt stehen und bestaunten mit offenem Mund das Gebäude, das sich vor ihnen erhob, denn das Herrenhaus von White Acre entfaltete tatsächlich eine ehrfurchtgebietende Pracht, insbesondere beim ersten Anblick. Schließlich war es dazu bestimmt, Gäste einzuschüchtern, und nur wenige konnten ihren Respekt, ihren Neid oder ihre Scheu verhehlen, zumal, wenn sie sich unbeobachtet glaubten.
    Mr Pike indessen würdigte das Herrenhaus keines Blickes. Vielmehr wandte er dem Gebäude sogleich den Rücken zu und nahm stattdessen Beatrix’ alten griechischen Garten in Augenschein, den Alma und Hanneke Mrs Whittaker zu Ehren seit Jahrzehnten hegten und pflegten. Mr Pike trat einige Schritte zurück, wie um auf diese Weise besser sehen zu können, und tat dann etwas höchst Befremdliches: Er stellte den Koffer ab, zog die Jacke aus, begab sich in die nordwestliche Ecke des Gartens und ging von dort, die Anlage mit langen Schritten diagonal durchquerend, in die südöstliche Ecke. Dort verharrte er einen Moment lang, blickte sich um und schritt dann das Terrain in seiner Länge und Breite ab wie ein Geometer, der eine Eigentumsgrenze vermisst. Als er die nordwestliche Ecke wieder erreicht hatte, nahm er den Hut ab, kratzte sich am Kopf, hielt kurz inne und brach sodann in schallendes Gelächter aus. Alma konnte sein Lachen nicht hören, doch es war deutlich zu sehen.
    Nun vermochte sie sich nicht mehr zu bremsen und eilte aus der Remise, um ihn zu begrüßen.
    »Mr Pike«, sagte sie und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.
    »Sie müssen Miss Whittaker sein«, antwortete er lächelnd und ergriff ihre Hand. »Meine Augen möchten nicht glauben, was sie hier erblicken! Bitte, erklären Sie mir, Miss Whittaker – welches verrückte Genie hat solche Mühen auf sich genommen, in exakter Übereinstimmung mit dem euklidischen Symmetrieprinzip solch einen Garten anzulegen?«
    »Es war eine Eingebung meiner Mutter, Sir. Wenn sie nicht schon vor vielen Jahren dahingeschieden wäre, hätte Sie mit Begeisterung vernommen, dass Sie ihre Ziele erkannt haben.«
    »Wer würde so etwas nicht erkennen? Das ist der Goldene Schnitt! Hier die Doppelquadrate mit ihrem gleichmäßigen Geflecht von Dreiecken, und dort die Wege, die das Ganze halbieren, wodurch mehrere

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