Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Zerwürfnisses hatte Alma ihrer Schwester sogar Geld angeboten, was Prudence jedoch erwartungsgemäß ablehnte.
Eine herzliche Angelegenheit waren die Besuche bei den Dixons nie, und Alma verspürte stets ein Gefühl der Erleichterung, wenn sie hinter ihr lagen. Sooft sie Prudence sah, empfand Alma Scham. Sicher, die moralische Unnachgiebigkeit und Härte ihrer Schwester waren ein Ärgernis, dennoch konnte sich Alma des Gefühls nicht erwehren, dass das Verhalten ihres Vaters wie auch ihr eigenes bei dieser letzten Begegnung mit Prudence zu wünschen übrig gelassen hatte. Der Vorfall warf kein gutes Licht auf Alma und Henry: Während Prudence felsenfest und rechtschaffen auf der Seite des Guten stand, hatte Henry lediglich sein geschäftliches Eigentum verteidigt und seine Adoptivtochter verstoßen. Und Alma? Nun, Alma hatte de facto Partei für Henry Whittaker ergriffen, weil sie erstens ihre Schwester nicht energischer verteidigt hatte und zweitens nach Prudence’ Abgang auf White Acre geblieben war.
Aber ihr Vater brauchte sie! Henry mochte es an Großzügigkeit und Güte fehlen, doch er war ein einflussreicher Mann, und er brauchte Alma. Er konnte ohne sie nicht leben. Sie allein vermochte seine Geschäfte zu führen, und seine Geschäfte waren umfangreich und bedeutsam.
Hinzu kam, dass der Kampf gegen die Sklaverei Alma im Grunde nicht am Herzen lag. Selbstverständlich war ihr die Sklaverei zuwider, doch sie beschäftigte sich mit so vielen anderen Dingen, dass die Frage nicht täglich an ihrem Gewissen nagte. Immerhin lebte Alma in der Mooszeit; sie war schlicht und ergreifend nicht in der Lage, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, für ihren Vater zu sorgen und gleichzeitig auf der Bühne menschlich-politischer Alltagsdramen eine tragende Rolle zu spielen. Natürlich war die Sklaverei ein altes Unrecht, das es aus der Welt zu schaffen galt. Doch es gab viele Ungerechtigkeiten. Etwa die Armut oder die Tyrannei oder auch Diebstahl und Mord. Es war einfach ein Ding der Unmöglichkeit, jedes Unrecht aus der Welt schaffen zu wollen, nebenher bedeutende Bücher über amerikanische Moosgewächse zu verfassen und zugleich die komplizierten Geschäfte eines weltweit agierenden Familienunternehmens zu führen.
Oder etwa nicht?
Warum war Prudence eigentlich in solcher Weise darauf erpicht, ihre Mitmenschen – verglichen mit den unerhörten Opfern, die sie selbst erbrachte – als engherzig und unmoralisch hinzustellen?
»Danke für deine Freundlichkeit«, lautete Prudence’ immer gleiche Antwort, wenn Alma mit einem Geschenk oder einem Korb vor der Tür stand. Nie ging sie so weit, einer echten Zuneigung oder Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen. Prudence war von geradezu vollendeter Höflichkeit, doch herzlich war sie nicht. Wenn Alma nach diesen Besuchen in der armseligen Bleibe der Dixons ins luxuriöse White Acre zurückkehrte, fühlte sie sich ausgelaugt wie nach einer schweren Prüfung – als hätte man sie einem strengen Richter vorgeführt, vor dem sie nicht zu bestehen vermochte. So war es kaum verwunderlich, dass Alma ihre Schwester im Laufe der Jahre immer seltener aufsuchte und die beiden sich immer weiter voneinander entfernten.
Und nun hatte Alma von George Hawkes erfahren, dass Arthur Dixons aufrührerisches Pamphlet Prudence’ Familie möglicherweise in weitere Schwierigkeiten gebracht hatte. Während sie sich im Frühjahr 1848 an den Kalkfelsen Notizen über die Entwicklung ihrer Mooskolonien machte, fragte sie sich, ob sie ihre Schwester nicht aufsuchen sollte. Sollte die Stellung ihres Schwagers an der Universität tatsächlich bedroht sein, wäre die Lage ernst. Doch was sollte Alma sagen? Was konnte sie tun? Was konnte sie Prudence anbieten? Würde sich ihre Schwester aus Bescheidenheit, Stolz und Eigensinn nicht gegen jede Hilfe wehren?
Und überhaupt – waren die Dixons nicht selbstverschuldet in diese Klemme geraten? War dies alles nicht die logische Folge ihres radikalen, extremen Lebensstils? Und wie stand es eigentlich um Arthurs und Prudence’ elterliche Pflichten? Brachten sie nicht das Leben ihrer sechs Kinder in Gefahr? Sie traten für eine gefährliche Sache ein. Abolitionisten wurden häufig verprügelt und durch die Straßen getrieben – sogar im nördlichen Amerika! Im Norden der Vereinigten Staaten hatte man zwar für die Sklaverei nichts übrig, dafür aber umso mehr für Ruhe und Ordnung, und Abolitionisten störten die Ruhe. Überdies gab es auch hier Leute, die es
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