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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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aufgetragene Albumin ließ jede Blüte wie von Tau benetzt glänzen.
    Als George Alma die nächste Graphik reichte, rang sie unwillkürlich nach Luft. Noch nie hatte Alma eine vergleichbare Orchidee zu Gesicht bekommen. Sie glich einem wundersamen Kostüm, wie es eine Fee zum Maskenball getragen hätte. Etwas so Zartes, Delikates hatte Alma noch nie gesehen, und sie kannte sich aus in der Kunst der Lithographie. Vier Jahre vor ihrer Geburt war diese Technik erfunden worden, und Alma hatte für die Bibliothek von White Acre einige der besten Lithographien zusammengetragen, die jemals entstanden waren. Auch George Hawkes kannte sich mit dieser Kunst aus, besser als jeder andere in Philadelphia. Und so reichte er Alma mit zitternder Hand das nächste Blatt, die nächste Orchidee. Er brannte vor Ungeduld, ihr die Bilder zu zeigen, alle und am liebsten alle auf einmal. Auch Alma konnte es kaum erwarten, mehr zu sehen, doch zunächst musste sie etwas über die Hintergründe erfahren.
    »Warten Sie, George, lassen Sie uns einen Moment innehalten. Erst müssen Sie mir sagen: Wer hat diese Bilder gemacht?« Es gab eigentlich keinen guten Pflanzenillustrator, von dem Alma nicht wusste – doch dieser Künstler war ihr vollkommen unbekannt. Nicht einmal Walter Hood Finch wäre zu so etwas imstande gewesen. Und hätte Alma jemals in ihrem Leben botanische Illustrationen dieser Qualität gesehen, nun, das wüsste sie.
    »Offenbar ein ganz außergewöhnlicher Bursche«, antwortete George. »Sein Name ist Ambrose Pike.«
    Den Namen hatte Alma noch nie gehört.
    »Wer publiziert seine Arbeiten?«, fragte sie.
    »Niemand!«
    »Und wer hat diese Arbeiten in Auftrag gegeben?«
    »Es steht nicht fest, ob sie überhaupt in Auftrag gegeben wurden«, erklärte George. »Mr Pike hat die Lithographien höchstselbst angefertigt, in der Druckerei eines Freundes in Boston. Er hat die Orchideen entdeckt, die Zeichnungen gemacht, die Graphiken hergestellt und sie sogar eigenhändig koloriert. Mir hat er sie ohne weitere Erklärungen zugeschickt. Sie sind gestern hier eigetroffen, in einer Kiste, wie sie primitiver nicht sein könnte. Mr Pike hat nach eigener Auskunft die vergangenen achtzehn Jahre in Guatemala und Mexiko zugebracht und ist erst kürzlich nach Massachusetts heimgekehrt. Die Orchideen, die er hier dokumentiert, sind das Ergebnis seiner Zeit im Dschungel. Niemand kennt ihn. Wir müssen ihn nach Philadelphia holen, Alma. Vielleicht könnten Sie ihn nach White Acre einladen. Sein Brief war sehr bescheiden. Er hat sein gesamtes Leben in den Dienst dieser Sache gestellt. Er möchte wissen, ob ich die Arbeiten für ihn veröffentliche.«
    »Das werden Sie doch, oder?« Alma sah bereits alles vor sich: verschwenderisch schöne Drucke, von George Hawkes perfekt zur Geltung gebracht.
    »Selbstverständlich werde ich sie veröffentlichen! Sobald ich mich einigermaßen beruhigt habe. Einige dieser Orchideen habe ich tatsächlich noch nie gesehen, Alma. Und erst recht keine Illustrationen dieser Art.«
    »Ich auch nicht«, stellte Alma fest, wandte sich zum Tisch und blätterte weiter in den Bildern. Sie waren so schön, dass sie sich beinahe scheute, sie zu berühren. Man hätte sie alle ausnahmslos unter Glas legen müssen. Selbst die kleinsten Skizzen waren Meisterwerke. Alma sah zur Decke hinauf, um sich der Unversehrtheit des Daches zu vergewissern, denn Feuchtigkeit hätte die Kunstwerke zerstört. Dann erwog sie die Gefahr eines Feuers oder Einbruchs. George musste dieses Zimmer unbedingt verriegeln. Sie bedauerte zudem, keine Handschuhe mitgebracht zu haben.
    »Haben Sie jemals …«?, fing George an, doch er war so überwältigt, dass ihm die Stimme versagte. Noch nie hatte sie eine solche Leidenschaft in seinem Gesicht erblickt.
    »Nein«, flüsterte sie. »In meinem ganzen Leben noch nicht.«
    •
    Am selben Abend schrieb Alma einen Brief an Mr Ambrose Pike, wohnhaft in Massachusetts.
    In ihrem Leben hatte Alma bereits Tausende und Abertausende von Briefen geschrieben, darunter etliche Lobeshymnen und Einladungen; doch wie sie diesen beginnen sollte, war ihr vollkommen schleierhaft. Wie richtete man das Wort an ein wahres Genie? Zu guter Letzt beschloss Alma, nichts Geringeres zu tun, als ehrlich zu sein.
    Lieber Mr Pike,
    ich fürchte, Sie haben mir großes Leid zugefügt. Sie haben mich für immer ins Unglück gestürzt, denn von nun an werde ich außerstande sein, anderen botanischen Illustrationen als den Ihren die geringste

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