Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
denn wäre er so jung gewesen, wie er zunächst gewirkt hatte, hätte er unmöglich ein derart umfangreiches Werk schaffen können. Es lag an seiner überschwänglichen Körpersprache, seiner flotten Gangart und dem bescheidenen braunen Anzug, dass er aus der Ferne wie ein junger, mittelloser Universitätsstudent wirkte. Aus der Nähe sah man ihm sein Alter freilich an – gerade jetzt, da er sich ohne Hut im Gras rekelte. Sein sommersprossiges Gesicht war vom Wetter gegerbt und von feinen Falten überzogen, und an den Schläfen färbte sich das rotblonde Haar bereits grau. Alma schätzte sein Alter auf fünfunddreißig, vielleicht sechsunddreißig. Mindestens zehn Jahre jünger als sie, aber eben auch kein Kind mehr.
»Gewiss ist es von großem Gewinn, die Welt aus solcher Nähe zu studieren«, fuhr Ambrose Pike fort. »Zu viele Menschen kehren sich, wie ich finde, von den kleinen Wundern des Lebens ab. Dabei bergen Details viel mehr Kraft als Allgemeinheiten, doch den meisten Gemütern gelingt es nicht, sich im Stillsitzen zu üben.«
»Dennoch fürchte ich mitunter, dass meine Welt zu detailliert, zu kleinteilig geworden ist«, wandte Alma ein. »Ich brauche Jahre, um meine Moosbücher zu schreiben, und sie sind so kompliziert, dass ich sie mit persischen Miniaturen vergleiche, die man nur durch die Lupe zu studieren vermag. Meine Arbeit bringt mir keinen Ruhm. Auch Einnahmen bringt sie mir nicht: Sie sehen also, wie klug ich meine Zeit nutze.«
»Mr Hawkes erwähnte aber, dass Ihre Bücher gut besprochen würden.«
»Das werden sie ganz gewiss – von jener Handvoll Gentlemen auf Erden, die sich brennend für Fragen der Bryologie interessieren.«
»Eine Handvoll!«, rief Mr Pike aus. »So viele! Bedenken Sie, Madam, dass Sie mit einem Mann sprechen, der in seinem langen Leben noch nichts veröffentlicht hat und dessen arme Eltern fürchten müssen, ihr Sohn fröne dem Müßiggang.«
»Aber Ihre Werke sind großartig, Mr Pike.«
Er winkte ab. »Können Sie Ihrer Arbeit so etwas wie Würde abgewinnen?«, fragte er.
»Ja, ganz gewiss«, antwortete Alma nach kurzem Nachdenken. »Obwohl ich mich manchmal frage, warum. Ich denke, die Mehrheit der Menschen – insbesondere jene, die unter Armut leiden – wäre glücklich, nicht mehr arbeiten zu müssen. Warum also arbeite ich mit solchem Einsatz an einem Gegenstand, der so wenigen Menschen am Herzen liegt? Warum begnüge ich mich nicht damit, die Moospflanzen zu bewundern, meinethalben auch zu zeichnen, wenn mir ihr Äußeres so gefällt? Warum muss ich an ihren Geheimnissen rühren und sie anflehen, mir Auskünfte über die Beschaffenheit des Lebens zu geben? Ich befinde mich, wie Sie sehen, in der glücklichen Lage, aus einer vermögenden Familie zu stammen, so dass für mich keinerlei Notwendigkeit besteht, jemals zu arbeiten. Warum reicht es mir nicht, mich glücklich dem Nichtstun hinzugeben und zuzulassen, dass sich mein ganzes Sein so frei und unbekümmert entfaltet wie diese Gräser hier?«
»Weil Sie Interesse an der Schöpfung hegen«, lautete Ambrose Pikes einfache Antwort. »An der Schöpfung und ihrer wunderbaren Ordnung.«
Alma errötete. »Aus Ihrem Mund klingt das erhaben.«
»Es ist erhaben«, erwiderte er.
Eine Zeitlang saßen sie schweigend da. Irgendwo in den Bäumen sang eine Drossel.
»Welch schönes Privatkonzert!«, seufzte Mr Pike, nachdem sie lange gelauscht hatten. »Man möchte Beifall klatschen!«
»Für Vogelgesang gibt es hier auf White Acre wirklich keine bessere Jahreszeit«, bemerkte Alma. »An manchen Tagen, da können Sie morgens, auf dieser Wiese unter einem einzigen Kirschbaum sitzend, alle Stimmen eines ganzen Vogelorchesters hören, das nur für Sie zu spielen scheint.«
»Wie gern würde ich solch ein Konzert einmal hören. Ich habe unsere amerikanischen Singvögel von ganzem Herzen vermisst, als ich im Dschungel war.«
»Aber dort müssen doch die auserlesensten Vögel leben, Mr Pike!«
»Ja – auserlesen und exotisch. Doch das ist nicht dasselbe. Wissen Sie, früher oder später wird man krank vor Heimweh nach den vertrauten Geräuschen der Kindheit. Es gab Zeiten, da hörte ich im Traum das Gurren der Trauertauben. Es klang so lebensecht, dass es mir das Herz zerriss. Es weckte den Wunsch in mir, nie wieder aufzuwachen.«
»Mr Hawkes sagte mir, Sie hätten viele Jahre im Dschungel verbracht.«
»Achtzehn«, antwortete er mit einem beinahe beschämten Lächeln.
»Vornehmlich in Mexiko und
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