Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
George lächelnd. »Ihre Arbeit hat mir einen außergewöhnlichen, beispiellosen Genuss verschafft.«
Georges Aufrichtigkeit berührte Alma. Sie wusste, was ihr Freund verschwiegen hatte, verschweigen musste: die Tatsache, dass im vergangenen Jahr großes Leid über die Familie Hawkes gekommen war und dass nur Ambrose Pikes Orchideen George zeitweilig den Fängen der Betrübnis entrissen hatten.
»Ich möchte Ihnen meinen aufrichtigen Dank für Ihre Unterstützung ausdrücken«, erwiderte Mr Pike. »Bedauerlicherweise ist dieser Dank die einzige Gegenleistung, die ich Ihnen derzeit bieten kann, doch er kommt aus tiefstem Herzen.«
Was Henry Whittaker betraf, so befand er sich ausgerechnet an diesem Abend in einer überaus garstigen Gemütslage. Alma sah es ihm aus zehn Schritten Entfernung an und wünschte, er hätte sich gar nicht erst zu ihnen gesellt. Sie hatte es versäumt, ihren Gast vor der schroffen Natur ihres Vaters zu warnen, was sie nun bedauerte. Unwissentlich war der arme Mr Pike im Begriff, sich einem Wolf zum Fraß vorzuwerfen, der zudem sichtlich hungrig und gereizt war. Ferner bedauerte Alma, dass weder sie noch George Hawkes daran gedacht hatten, eines der überwältigenden Orchideenbilder mitzubringen und ihrem Vater zu zeigen. Folglich hatte Henry keine Ahnung, wer dieser Ambrose Pike überhaupt war, wenn nicht ein Orchideenjäger und Künstler und somit eine Sorte Mensch, der von Henrys Seite alles andere als Bewunderung entgegenschlug.
Kein Wunder also, dass die Veranstaltung einen recht bescheidenen Auftakt nahm.
»Wer ist diese Person?«, fragte Henry und starrte seinen neuen Gast unverblümt an.
»Das ist Mr Ambrose Pike«, antwortete Alma. »Wie ich dir bereits erzählt habe, ist er ein Naturforscher und Maler, den George unlängst entdeckt hat. Von ihm stammen die vorzüglichsten Orchideen-Darstellungen, die ich je gesehen habe, Vater.«
»Sie malen Orchideen?«, fragte Henry in einem Ton, den andere angeschlagen hätten, um zu sagen: »Sie rauben Witwen aus?«
»Nun, ich bemühe mich, Sir.«
»Jeder bemüht sich, Orchideen zu malen«, erwiderte Henry. »Wo ist hier das Neue?«
»Das ist eine berechtigte Frage.«
»Was ist denn so besonders an Ihren Orchideen?«
Mr Pike dachte nach. »Ich wüsste es nicht zu sagen«, räumte er schließlich ein. »Ich weiß nicht, ob irgendetwas besonders an ihnen ist – abgesehen vielleicht von der Tatsache, dass ich nichts anderes tue, als Orchideen zu malen. Seit beinahe zwanzig Jahren widme ich mich nichts anderem.«
»Nun, das ist ein sinnloser Broterwerb.«
»Da muss ich Ihnen widersprechen, Mr Whittaker«, entgegnete der Künstler gelassen. »Wenn auch nur, weil ich es ganz und gar nicht als Broterwerb bezeichnen würde.«
»Und wie bestreiten Sie Ihr Leben?«
»Abermals werfen Sie eine berechtigte Frage auf. Doch wie Sie schon meiner Garderobe unschwer entnehmen können, ist es fraglich, ob ich mein Leben überhaupt bestreite.«
»Ich würde diesen Umstand nicht als Qualitätsmerkmal preisen, junger Mann.«
»Glauben Sie mir, Sir, nichts liegt mir ferner.«
Henry sah seinen Gast durchdringend an, musterte den verschlissenen Anzug, den unfrisierten Bart. »Was ist passiert?«, fragte er. »Warum sind Sie so arm? Haben Sie als Lebemann ein Vermögen verprasst?«
»Vater …«, setzte Alma an.
»Bedauerlicherweise nicht«, erwiderte Mr Pike ohne jedes Anzeichen von Verstimmung. »In meiner Familie hat niemals ein Vermögen existiert, das man hätte verprassen können.«
»Und wie bestreitet Ihr Vater sein Leben?«
»Derzeit weilt er bereits im Jenseits. Vorher war er Pfarrer in Framingham, Massachusetts.«
»Und warum sind Sie dann nicht auch Pfarrer geworden?«
»Meine Mutter ist darüber gleichermaßen erstaunt, Mr Whittaker. Unglücklicherweise stellen sich mir, was die Religion betrifft, zu viele Fragen, als dass ich ein guter Pfarrer sein könnte.«
»Die Religion?« Henry runzelte die Stirn. »Was zum Teufel hat die Religion damit zu tun, ob jemand ein guter Pfarrer ist? Es ist ein Beruf wie jeder andere, junger Mann. Man erfüllt seine Aufgabe und hält mit seinen Meinungen hinterm Berg. So machen es alle guten Pfarrer – sollten sie zumindest!«
Mr Pike lachte. »Hätte mir das doch nur jemand vor zwanzig Jahren gesagt, Sir!«
»Für einen jungen Mann, der gesund und bei klarem Verstand ist, gibt es in diesem Land keine Ausrede, erfolglos zu sein. Selbst ein Pfarrerssohn sollte imstande sein, irgendwo eine
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