Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Nach einer Weile bemerkte Alma, dass Mr Pike eingeschlafen war. Wie plötzlich dies geschehen war! Gerade noch wach, und jetzt in tiefem Schlummer! Sicher war er übermüdet von der langen Reise, dachte Alma – und sie hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als ihn mit Fragen zu überschütten und mit Theorien über Bryophyten und Transformationsprozesse zu behelligen.
Leise stand sie auf und entfernte sich, um in einem anderen Teil des Felsenterrains weiter über ihre Mooskolonien nachzusinnen. Sie war glücklich und vollkommen gelöst. Welch angenehmer Mensch, dieser Mr Pike! Sie fragte sich, wie lange er auf White Acre bleiben würde. Vielleicht konnte sie ihn dazu überreden, den ganzen Sommer hier zu verbringen. Es wäre ein großes Vergnügen, einen so freundlichen, wissbegierigen Menschen um sich zu haben. Wie einen jüngeren Bruder. Der Gedanke an einen jüngeren Bruder hatte sie bis dahin noch nie beschäftigt, doch nun sehnte sie sich diesen Bruder herbei und wünschte sich, es wäre Ambrose Pike. Sie würde mit ihrem Vater darüber sprechen. Bestimmt könnten sie Ambrose in einem der alten Molkereigebäude ein Atelier einrichten, sollte er länger bleiben wollen.
Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, da bemerkte sie, dass sich Mr Pike im Gras zu regen begann. Sie ging wieder zu ihm.
»Sie sind eingeschlafen«, sagte sie lächelnd.
»Nein«, stellte er richtig. »Der Schlaf hat mich übermannt.«
Er streckte seine Glieder wie eine Katze oder ein kleines Kind. Es schien ihm in keiner Weise unangenehm zu sein, dass er in Almas Gegenwart eingeschlummert war; somit war es auch ihr nicht unangenehm.
»Sie müssen ermattet sein, Mr Pike.«
»Ich bin seit Jahren ermattet.« Er richtete sich auf, gähnte und setzte den Hut wieder auf. »Was sind Sie nur für ein großmütiger Mensch, dass Sie mir diese Ruhepause gestattet haben. Ich danke Ihnen.«
»Nun, Sie waren so großmütig, mir zuzuhören, als ich über die Moose sprach.«
»Es war mir ein Vergnügen. Und ich hoffe, noch mehr davon zu hören. Als ich eingenickt bin, dachte ich just darüber nach, welch beneidenswertes Leben Sie führen, Miss Whittaker. Wenn ich mir vorstelle … sein ganzes Dasein allein der Beschäftigung mit diesen schönen, mannigfaltigen Gewächsen zu widmen – umgeben von einer liebevollen Familie und allem, was dies an Annehmlichkeiten mit sich bringt.«
»Ich hätte vielmehr vermutet, dass mein Leben einem Mann, der selbst achtzehn Jahre in den Urwäldern von Zentralamerika verbracht hat, langweilig erscheint.«
»Nicht im mindesten. Im Gegenteil, ich sehne mich wohl eher nach einem etwas langweiligeren Leben als dem, das mir bisher beschieden war.«
»Geben Sie acht darauf, was Sie sich wünschen, Mr Pike. Ein langweiliges Leben ist nicht so interessant, wie Sie vielleicht glauben!«
Ambrose Pike lachte. Alma trat näher und setzte sich neben ihn, direkt ins Gras, die Röcke um die Beine zusammengerafft.
»Ich muss Ihnen etwas gestehen, Mr Pike«, sagte sie. »Gelegentlich beschleicht mich die Angst, dass meine Arbeit an diesen Moosfelsen nicht den geringsten Nutzen oder Wert haben könnte. Dann wünsche ich mir, ich könnte der Welt etwas Funkelnderes, Prachtvolleres bieten – etwas, dem wohl Ihre Orchideenbilder näherkommen. Ich bin fleißig und diszipliniert, doch ich verfüge über keine hervorstechende Begabung.«
»Sie meinen, Sie sind tüchtig, aber kein Genie?«
»Ja!«, antwortete Alma. »Genau das! Ganz genau.«
»Ach was!«, erwiderte er. »Das überzeugt mich nicht. Und ich frage mich, warum Sie sich überhaupt einen so törichten Gedanken einreden.«
»Sie sind überaus freundlich, Mr Pike. Heute Nachmittag hat Ihr Interesse mich alte Dame jedenfalls sehr beglückt. Doch ich mache mir über mein Leben keine Illusionen. Meine Arbeit an diesen Mooskolonien interessiert allenfalls die Kühe und Krähen, die mir tagtäglich dabei zusehen.«
»Niemand kennt sich in Fragen des Genies besser aus als Kühe und Krähen, Miss Whittaker. Das dürfen Sie mir aufs Wort glauben – ich male und zeichne seit vielen Jahren ausschließlich zu deren Belustigung.«
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An diesem Abend war auch George Hawkes zu einem gemeinsamen Dinner nach White Acre geladen. Es sollte Georges erste persönliche Begegnung mit Ambrose Pike sein, und er war schrecklich aufgeregt oder zumindest so aufgeregt, wie ein ernsthafter Gentleman seines Schlages zu sein vermochte.
»Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Sir«, sagte
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