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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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einträgliche Beschäftigung zu finden.«
    »Dem würden viele zustimmen«, räumte Mr Pike ein. »Auch mein seliger Vater. Dennoch lebe ich seit Jahren unterhalb meiner gesellschaftlichen Stellung.«
    »Und ich oberhalb der meinen – und das schon seit Ewigkeiten! Als ich nach Amerika kam, war ich ein junger Bursche, etwa in Ihrem Alter. Überall lag Geld herum, im ganzen Land. Ich brauchte es nur mit der Spitze meines Gehstocks aufzuspießen. Wie lautet also Ihre Entschuldigung dafür, dass Sie arm sind?«
    Ambrose Pike blickte Henry fest in die Augen und sagte ohne jeden Anflug von Ironie oder Sarkasmus: »Es mangelt wohl an einem guten Gehstock.«
    Alma schluckte und senkte den Blick auf ihren Teller. George Hawkes tat es ihr gleich. Henry indessen schien gar nichts gehört zu haben. Es gab wahrlich Momente, da konnte Alma dem Himmel nur danken für die zunehmende Schwerhörigkeit ihres Vaters. Er hatte seine Aufmerksamkeit längst dem Butler zugewandt.
    »Eins sage ich Ihnen, Becker«, knurrte er, »wenn Sie mir diese Woche noch ein einziges Mal Hammelfleisch vorsetzen, lasse ich hier jemanden erschießen.«
    »In Wahrheit lässt er niemanden erschießen«, flüsterte Alma ihrem Gast beruhigend zu.
    »Das dachte ich mir«, raunte Mr Pike zurück. »Sonst wäre ich bereits tot.«
    Während des restlichen Mahls führten George, Alma und Ambrose Pike – weitestgehend zu dritt – eine angenehme Unterhaltung, während Henry schnaubend und hustend über mancherlei Aspekte seines Essens lamentierte und sogar mehrmals mit auf die Brust gesunkenem Kinn einnickte. Immerhin war er achtundachtzig. Glücklicherweise schien nichts davon Mr Pike zu bekümmern, und da George Hawkes mit Henrys Gebaren bestens vertraut war, ließ auch Almas Anspannung schließlich ein wenig nach.
    »Bitte sehen Sie es meinem Vater nach«, wandte sie sich mit leiser Stimme an Ambrose Pike, als Henry wieder einmal eingeschlummert war. »George kennt seine Stimmungen, wer aber noch keine Erfahrungen mit unserem Henry Whittaker gemacht hat, der wird vielleicht mit einer gewissen Bestürzung auf seine Ausbrüche reagieren.«
    »Ja, er ist tatsächlich ein echter Brummbär«, erwiderte Mr Pike in beinahe bewunderndem Ton.
    »Oh ja, das ist er«, pflichtete Alma ihm bei. »Gott sei Dank ein Brummbär, der hin und wieder Winterschlaf hält und uns somit manche Atempause gönnt!«
    Almas Bemerkung entlockte sogar George Hawkes ein Lächeln, während ihr Gast, in die Betrachtung des schlafenden Henrys vertieft, über etwas nachzusinnen schien.
    »Wissen Sie, mein Vater war immer so ernst und würdevoll«, sagte er. »Sein Schweigen jagte mir Angst ein. Ich möchte meinen, dass es höchst erfreulich ist, einen Vater zu haben, der so frei spricht und handelt. Man weiß jedenfalls immer, woran man ist.«
    »Ja, das weiß man allerdings«, stimmte ihm Alma zu.
    »Mr Pike«, meldete sich nun George, das Thema wechselnd, wieder zu Wort, »darf ich Sie fragen, wo Sie derzeit leben? Die Adresse, an die ich meinen Brief schickte, war in Boston, doch eben erwähnten Sie, dass Ihre Familie in Framingham ansässig ist, daher meine Nachfrage.«
    »Derzeit bin ich heimatlos«, antwortete Ambrose. »Die Adresse in Boston, von der Sie sprachen, ist der Wohnsitz meines alten Freundes Daniel Tupper, der seit den Tagen meines kurzen Werdegangs in Harvard stets freundlich zu mir war. Seine Familie besitzt eine kleine Druckerei in Boston – nichts, was sich mit Ihrem Etablissement vergleichen ließe, doch gut geführt und durchaus respektabel. Die Tuppers haben sich in erster Linie mit Broschüren, Werbeplakaten und Ähnlichem einen Namen gemacht. Als ich Harvard verließ, arbeitete ich einige Jahre lang als Schriftsetzer für die Familie und stellte fest, dass ich ein Händchen dafür habe. Dort habe ich auch die Kunst der Lithographie erlernt. Man hatte mich gewarnt, es sei eine schwierige Domäne, aber ich konnte diese Ansicht niemals teilen. Im Grunde ist es kaum anders als Zeichnen, nur eben auf Stein.«
    »Und was hat Sie nach Mexiko und Guatemala geführt, Mr Pike?«
    »Auch das verdanken wir meinem Freund Tupper. Orchideen haben mich immer schon fasziniert, und so heckte Tupper irgendwann den Plan aus, ich solle für einige Jahre zum Zeichnen in die Tropen reisen. Anschließend würden wir gemeinsam ein schönes Buch über tropische Orchideen herausbringen. Leider glaubte er, wir beide könnten damit einigermaßen reich werden. Wissen Sie, wir waren jung, und sein

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