Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
zahlende Passagierin an Bord eines Walfängers mit Kurs auf die Südsee.
Sie stach ohne Dienstboten, ohne Freunde, ohne Führung in See. Hanneke de Groot war ihr weinend um den Hals gefallen, als sie hörte, dass Alma fortgehen wolle, hatte sich jedoch rasch wieder gefangen und eine praktische Reisegarderobe für Alma in Auftrag gegeben: schlichte Kleider aus Leinen und Wolle und mit verstärkten Knöpfen, ganz ähnlich denen, die Hanneke selbst von jeher trug und die ohne die Hilfe von Dienstboten instand zu halten waren. Alma sah in dieser Aufmachung im Grunde selbst wie ein Dienstmädchen aus, empfand die neue Garderobe indessen als ausgesprochen bequem, weil sie sich frei darin bewegen konnte. Sie fragte sich, warum sie sich nicht schon ihr Leben lang so kleidete. Als alles fertig war, gab Alma Hanneke den Auftrag, in die Säume verborgene Taschen einzunähen, um die Gold- und Silbermünzen darin zu verstecken, mit denen Alma unterwegs ihre Auslagen zu begleichen gedachte. Diese versteckten Münzen machten einen Großteil des materiellen Besitzes aus, der ihr noch verblieben war. Es war keineswegs ein Vermögen zu nennen, doch es würde – so hoffte Alma inständig – eine genügsame Reisende für zwei oder drei Jahre versorgen.
»Du warst immer so gut zu mir«, sagte Alma zu Hanneke, als die Kleider gebracht wurden.
»Nun, ich werde dich vermissen«, gab Hanneke zurück, »und wenn du aufbrichst, werde ich wieder weinen. Aber seien wir ehrlich, Kind: Wir sind beide schon zu alt, um die großen Veränderungen des Lebens noch zu fürchten.«
Prudence schenkte Alma ein Erinnerungsarmband, das aus Strähnen von Prudence’ eigenem Haar (immer noch hell und fein wie gesponnener Zucker) und Hannekes Haar (grau wie polierter Stahl) geflochten war. Sie knotete es Alma eigenhändig ums Handgelenk, und Alma schwor, es niemals abzulegen.
»Ich könnte mir kein schöneres Geschenk denken«, sagte sie und meinte das ganz ernst.
Gleich nachdem die Entscheidung, nach Tahiti zu reisen, gefallen war, hatte Alma dem Missionar in der Matavai-Bucht, Reverend Francis Welles, einen Brief geschrieben, um ihm anzukündigen, dass sie kommen und auf unbestimmte Zeit bleiben werde. Sie wusste, dass sie höchstwahrscheinlich vor ihrem Brief in Papeete eintreffen würde, doch daran ließ sich nichts ändern. Sie musste Philadelphia verlassen, ehe das Hafenbecken zufror. Sie wollte nicht so lange warten, dass ihr Entschluss womöglich noch ins Wanken geriet. So blieb nur zu hoffen, dass eine Unterkunft für sie bereit sein würde, wenn sie auf Tahiti eintraf.
Alma brauchte drei Wochen, um zu packen. Was sie mitnehmen sollte, wusste sie ganz genau, nachdem sie seit Jahrzehnten botanische Forscher darin beriet, ein vernünftiges und zweckmäßiges Reisegepäck zusammenzustellen. Und so packte sie Arsenseife, Schusterpech, Zwirn, Kampfer, Pinzetten, Kork, Insektenkästen, eine Botanisierpresse, etliche wasserfeste Beutel aus Kautschuk, zwei Dutzend strapazierfähiger Bleistifte, drei Fässchen mit schwarzer Tinte, eine Büchse Aquarellpigment, Pinsel, Nadeln, Netze, Linsen, Kitt, Messingdraht, ein paar kleine Skalpelle, Waschlappen, Nähseide, einen Apothekerkasten sowie fünfundzwanzig Ries Papier ein, schlichtes braunes Papier zum Löschen und zum Schreiben. Sie zog auch eine Waffe in Erwägung, doch da sie keine allzu erfahrene Schützin war, beschloss sie schließlich, dass bei einem Angriff aus nächster Nähe ein Skalpell ausreichen musste.
Bei ihren Vorbereitungen hatte sie die Stimme ihres Vaters im Ohr und dachte an die vielen Male zurück, die sie zum Diktat bei ihm gesessen oder mit angehört hatte, wie er einen jungen Botaniker instruierte. Sei wach und wachsam , hörte sie Henry sagen. Trag Sorge dafür, dass in deiner Reisegesellschaft außer dir noch jemand ist, der einen Brief schreiben oder lesen kann. Wenn du Wasser brauchst, folge einem Hund. Wenn du halb verhungert bist, iss lieber Insekten, als dass du unnötige Kraft bei der Jagd vergeudest. Alles, was ein Vogel frisst, kannst auch du essen. Die größte Gefahr droht dir nicht von Schlangen, Löwen oder Kannibalen; die größte Gefahr droht dir von Blasen an den Füßen, Unachtsamkeit oder Erschöpfung. Sorg immer dafür, dass deine Aufzeichnungen und Karten leserlich geschrieben sind; falls du stirbst, können deine Notizen künftigen Reisenden von Nutzen sein. Im allerschlimmsten Fall kannst du immer noch mit Blut schreiben.
Alma wusste, dass man in den Tropen
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