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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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wollte es den Brustkorb sprengen. Sie sah die letzten Pfähle des Kais vor sich, und dann, in atemberaubender Geschwindigkeit, lagen sie auf einmal hinter ihr. Dann flog das Schiff förmlich durch das riesige Hafenbecken von Boston, und die kleinen Fischerboote tanzten in seinem Kielwasser. Und am späten Nachmittag war Alma zum ersten Mal in ihrem Leben auf dem offenen Meer.
    »Ich werde Ihnen jeden Dienst erweisen, der in meiner Macht steht, damit Sie es auf dieser Reise behaglich haben«, hatte Kapitän Terrence ihr versprochen, als sie an Bord kam. Sie wusste seine Fürsorge zu schätzen, doch bald schon wurde ihr klar, dass von Behaglichkeit auf dieser Reise kaum die Rede sein konnte. Ihre Kajüte, gleich neben der des Kapitäns, war klein und düster, und es roch nach Abwasser darin. Das Trinkwasser roch nach Tümpel. Das Schiff sollte eine Ladung Maultiere nach New Orleans transportieren, und die Tiere beschwerten sich pausenlos. Das Essen war ebenso schlecht wie schwer verdaulich – Steckrüben und Salzzwieback zum Frühstück, Trockenfleisch und Zwiebeln zum Abendbrot – und das Wetter bestenfalls eine unsichere Angelegenheit. Während der ersten drei Wochen ihrer Reise sah Alma die Sonne nicht ein einziges Mal. Die Elliot geriet in Stürme, die in beachtlichem Ausmaß Geschirr zu Bruch und Seeleute zu Boden gehen ließen. Mitunter musste sich Alma am Tisch des Kapitäns festbinden, um unbeschadet ihr Trockenfleisch und ihre Zwiebeln verzehren zu können. Doch sie aß stets mit Anstand und ohne zu klagen.
    Außer ihr war keine weitere Frau an Bord und auch kein gebildeter Mann. Die Besatzung spielte bis spät in die Nacht hinein Karten, lachte und grölte und hinderte sie am Schlafen. Manchmal tanzten die Männer wie besessen an Deck, bis Kapitän Terrence drohte, ihre Fiedeln zu zerschlagen, wenn sie nicht endlich aufhörten. Es waren lauter Raubeine an Bord der Elliot . Vor der Küste North Carolinas fing einer der Matrosen einen Falken, beschnitt ihm die Flügel und amüsierte sich darüber, ihn hilflos auf Deck herumhüpfen zu sehen. Alma fand das scheußlich, doch sie schwieg. Am nächsten Tag veranstaltete die gelangweilte, Zerstreuung suchende Besatzung eine Hochzeit mit zwei Maultieren, die sie zu diesem Anlass mit festlichen Papierkragen versahen. Das gab wildes Gejohle und Geschrei. Der Kapitän ließ sie gewähren; er fand nichts Verwerfliches dabei – vielleicht ja, dachte Alma, weil es immerhin eine christliche Hochzeit war. Sie selbst hatte nie zuvor ein derartiges Benehmen erlebt.
    Es gab niemanden, mit dem sie über ernsthafte Fragen hätte sprechen können, und so beschloss sie, nicht mehr über ernsthafte Fragen zu sprechen. Sie entschloss sich, guter Laune zu sein und mit allen zu plaudern. Sie nahm sich vor, sich keine Feinde zu machen. Das schien ihr die vernünftigste Strategie zu sein, da sie ja die nächsten fünf bis sieben Monate gemeinsam auf See verbringen würden. Sie gestattete sich sogar, über die Scherze der Männer zu lachen, solange sie nicht zu derb wurden. Um ihr Wohlergehen fürchtete sie nicht: Kapitän Terrence duldete keine Vertraulichkeiten, und die Männer benahmen sich Alma gegenüber nicht im mindesten anzüglich. (Was Alma nicht weiter wunderte: Wenn sich schon kein Mann für sie interessiert hatte, als sie neunzehn war, würde sich nun, mit einundfünfzig, doch wohl erst recht keiner mehr für sie interessieren.)
    Ihr vertrautester Gefährte wurde der kleine Affe, den Kapitän Terrence sich hielt. Er hörte auf den Namen »Little Nick« und hockte oft stundenlang bei Alma, um sie immer nach neuen Merkwürdigkeiten abzusuchen, als lauste er eine Artgenossin. Er war ein überaus kluges und neugieriges Geschöpf. Mehr als alles andere fesselte ihn das Armband aus geflochtenem Haar, das Alma ums Handgelenk trug. Und nie überwand er seine Verwunderung darüber, dass sie am anderen Handgelenk kein ebensolches Armband trug – allmorgendlich überprüfte er, ob nicht vielleicht über Nacht ein weiteres dort gewachsen war. Dann seufzte er und musterte Alma mit resigniertem Blick, als wollte er sagen: »Verstehst du denn wirklich gar nichts von Symmetrie?« Im Laufe der Zeit gewöhnte Alma sich an, ihren Schnupftabak mit Little Nick zu teilen. Er schob sich mit zierlicher Geste einen Krümel davon ins Nasenloch, tat ein reinigendes Niesen, um anschließend auf Almas Schoß einzuschlafen. Sie hätte nicht gewusst, was ohne seine Gesellschaft aus ihr geworden

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