Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
helle Farben tragen musste, um die Hitze zu mildern. Sie wusste, dass ein Kleidungsstück perfekt vor Wasser geschützt war, wenn man es mit Seifenschaum bearbeitete und über Nacht trocknen ließ. Sie wusste, dass man direkt auf der Haut nur Flanellstoff tragen sollte. Sie wusste, dass es ratsam war, Geschenke mitzubringen, sowohl für den Missionar (aktuelle Zeitungen, Gemüsesamen, Chinin, Werkzeug und Glasgefäße) als auch für die Eingeborenen (Stoffe, Knöpfe, Spiegel und Bänder). Auch eines ihrer geliebten Mikroskope nahm sie mit, das kleinste, obwohl sie große Befürchtungen hegte, es könnte auf der Reise Schaden nehmen. Sie packte auch ein nagelneues Chronometer sowie ein kleineres Reisethermometer ein.
All das verstaute sie in Truhen und Holzkisten – liebevoll gepolstert mit getrocknetem Moos –, die sie sodann vor der Remise zu einer kleinen Pyramide stapelte. Ein Anflug von Panik befiel sie, als sie ihre Habseligkeiten auf dieses Häuflein reduziert sah. Wie sollte sie bloß mit so wenig auskommen? Was sollte sie ohne eine Bibliothek anfangen? Ohne ihr Herbarium? Wie würde es sein, mitunter ein halbes Jahr auf Nachrichten von der Familie oder der Wissenschaft warten zu müssen? Was, wenn das Schiff sank und all diese lebensnotwendigen Dinge verlorengingen? Mit einem Mal verspürte Alma tiefes Mitgefühl mit all den jungen Männern, die sie und ihr Vater früher auf Forschungsexpeditionen zu schicken pflegten – wie viel Angst und Unsicherheit sie empfunden haben mussten, obwohl sie sich größte Mühe gaben, zuversichtlich zu wirken! Von manchen dieser jungen Männer hatten sie nie wieder etwas gehört.
Beim Vorbereiten und Packen war Alma sehr darauf bedacht, sich den Anschein einer botaniste voyageuse zu geben, doch in Wahrheit reiste sie keineswegs nach Tahiti, um nach Pflanzen zu suchen. Ihr eigentlicher Antrieb fand sich in einem Gegenstand, der ganz zuunterst in einer der größten Kisten lag: Ambroses Lederkoffer, fest verschlossen und gefüllt mit den Aktzeichnungen des jungen Tahitianers. Diesen Knaben – sie hatte sich angewöhnt, ihn bei sich stets den Knaben zu nennen – wollte sie finden. Falls nötig, würde sie die ganze Insel Tahiti nach ihm absuchen, mit geradezu botanischer Akribie, als wäre er eine seltene Orchideenart. Sobald sie ihn sah, würde sie ihn erkennen, das wusste sie einfach. Sein Gesicht hatte sich ihr bis ans Ende ihrer Tage eingeprägt. Immerhin war Ambrose ein genialischer Künstler, und die Züge des Knaben wirkten außerordentlich lebensecht. Es war, als hätte Ambrose ihr eine Landkarte hinterlassen, der sie nun folgte.
Sie wusste nicht, was sie mit dem Knaben anfangen würde, wenn sie ihn gefunden hatte. Doch finden würde sie ihn.
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Alma nahm den Zug nach Boston, verbrachte dort drei Nächte in einem preiswerten Hotel am Hafen, wo es nach Gin, Tabak und dem Schweiß früherer Gäste roch, und schiffte sich von dort aus ein. Sie reiste auf der Elliot , einem hundertzwanzig Fuß langen Walfänger, stämmig und robust wie ein alter Ackergaul, der nun zum dutzendsten Mal seit seiner Fertigstellung Kurs auf die Marquesas nahm. Für ein beachtliches Honorar hatte der Kapitän sich bereit erklärt, den Umweg von achthundertfünfzig Meilen auf sich zu nehmen und Alma nach Tahiti zu bringen.
Der Kapitän war ein gewisser Mr Terrence aus Nantucket. Dick Yancey, der Alma ihren Platz an Bord verschafft hatte, bewunderte ihn sehr für seine Fähigkeiten als Seemann. Mr Terrence, versicherte Yancey, sei so streng, wie ein Kapitän zu sein habe, und er rang seinen Männern so viel Gehorsam ab wie kein Zweiter. Er mochte zwar mehr zum Wagemut als zur Vorsicht neigen – so war er beispielsweise bekannt dafür, die Segel im Sturm zu hissen, anstatt sie einzuholen, in der Hoffnung, durch die Windböen schneller voranzukommen –, doch er war auch ein frommer, nüchterner Mann, der selbst auf See nach Moral und Sittlichkeit strebte. Dick Yancey vertraute ihm und war schon viele Male mit ihm gesegelt. Selbst stets in Eile, bevorzugte er Kapitäne, die flink und furchtlos zum Ziel kamen, und ein solcher war Kapitän Terrence.
Alma war noch nie an Bord eines Schiffes gewesen. Genauer gesagt war sie zwar an Bord zahlloser Schiffe gewesen, als sie ihren Vater noch zum Hafen von Philadelphia begleitete, um die eingehende Fracht zu begutachten, doch sie war noch nie mit einem Schiff gesegelt. Als die Elliot das Dock verließ, stand Alma an Deck, und ihr Herz klopfte, als
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