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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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Nie war ihr ein Mensch begegnet, der so heiter und genügsam war, so viel verloren hatte und so wenig zum Leben brauchte. Mit der Zeit entdeckte sie, dass er nicht einmal ein eigenes Haus besaß. Kein fare gehörte ihm. Er schlief in der Missionskirche, auf einer der Bänke. Meist hatte er noch nicht einmal ein ahu taoto , um sich damit zuzudecken. Er konnte überall schlafen, wie eine Katze. Und er besaß nichts, bis auf seine Bibel – und auch die verschwand mitunter wochenlang, bis jemand sie ihm zurückbrachte. Er hielt keine Nutztiere und bestellte keinen Garten. Das kleine Kanu, mit dem er zur Korallenfarm hinauszufahren pflegte, gehörte einem vierzehnjährigen Jungen, der es ihm großzügig auslieh. Es konnte auf Erden, dachte Alma, keinen Häftling, Mönch oder Bettler geben, der weniger besaß als Reverend Welles.
    Doch das war keineswegs immer so gewesen, wie sie bald erfuhr. Francis Welles war in Cornwall aufgewachsen, in der Ortschaft Falmouth, direkt am Meer, als Sohn einer großen, wohlhabenden Fischerfamilie. Wenn er Alma auch keinen Einblick in die genauen Umstände seiner jungen Jahre gewährte (»Sie würden doch nur schlechter von mir denken, wenn Sie wüssten, was ich alles angestellt habe!«), entnahm sie seinen Andeutungen doch, dass er als junger Mann ein rechter Rabauke gewesen sein musste. Ein Schlag auf den Kopf führte ihn zu Gott – so zumindest schilderte der Reverend selbst seine Bekehrung: eine Kneipe, eine Schlägerei, »eine Flasche über die Rübe« und dann … die Offenbarung!
    Von Stund an widmete er sich einem gelehrsamen, frommen Leben. Wenig später heiratete er ein Mädchen namens Edith, die gebildete und tugendhafte Tochter eines ortsansässigen Methodisten-Pfarrers. Von Edith lernte er, sich pflichtbewusster und ehrbarer zu verhalten, zu denken und zu sprechen. Er entwickelte eine Vorliebe für Bücher und hatte, wie er selbst es ausdrückte, »alle möglichen hochfliegenden Gedanken«. Wenig später unterzog er sich der Priesterweihe. Jung und empfänglich für absonderliche Ideen, bewarben sich der frisch geweihte Reverend Francis Welles und seine Frau Edith bei der London Missionary Society und baten, man möge sie an einen möglichst entlegenen heidnischen Ort schicken, wo sie das Wort des Erlösers verkünden wollten. Die London Missionary Society empfing Francis mit offenen Armen, denn einen Gottesmann, der zugleich ein sturmerprobter und fähiger Seefahrer war, fand man nicht alle Tage. Für solche Aufgaben kann man nun einmal keinen Cambridge-Absolventen mit zarten Fingern brauchen.
    Reverend Francis Welles und seine Frau trafen 1797 auf Tahiti ein, zusammen mit fünfzehn weiteren englischen Missionaren, auf dem ersten Missionsschiff, das je dort anlegte. Zu jener Zeit verkörperte ein sechs Fuß hohes Holzstück, in tapa -Gewänder gehüllt und mit roten Federn geschmückt, den Gott der Tahitianer.
    »Als wir gelandet waren«, erzählte Reverend Welles, »zeigten die Eingeborenen größte Verwunderung über unsere Kleidung. Einer von ihnen zog mir einen Schuh aus und wich dann entsetzt zurück, als er meinen Strumpf sah. Er glaubte, ich hätte keine Zehen, nicht wahr! Nun, kurz danach hatte ich stattdessen keine Schuhe mehr, denn er nahm sie mit!«
    Francis Welles fasste sofort Zuneigung zu den Tahitianern. Er sagte, er schätze ihren Witz. Sie seien talentierte Parodisten, die andere gern hochnahmen. Ihn erinnerte das an die Späße und Spielereien an den Docks von Falmouth. Er freute sich daran, dass ihm jedes Mal, wenn er einen Strohhut aufsetzte, die Kinder hinterherliefen und »Strohkopf! Strohkopf!« riefen.
    Ja, er mochte die Tahitianer, doch es war ihm nicht beschieden, sie zu bekehren.
    Alma erzählte er: »Die Bibel lehrt uns: ›Ein Volk, das ich nicht kannte, dient mir; es gehorcht mir mit gehorsamen Ohren.‹ Nun, Schwester Whittaker, das mag vor zweitausend Jahren noch so gewesen sein! Als wir auf Tahiti landeten, war es eindeutig nicht mehr der Fall! Sie sind ja so ein sanftmütiges Volk, nicht wahr, und doch haben sie all unseren Bekehrungsversuchen widerstanden – und zwar überaus energisch! Nicht einmal die Kinder konnten wir lenken! Mrs Welles hat eine Schule für die Kleinen gegründet, doch die Eltern beklagten sich: ›Wozu haltet ihr meinen Jungen fest? Welche Reichtümer wird euer Gott ihm schon bringen?‹ Das Schöne an unseren tahitianischen Schülern war, dass sie so brav und nett und höflich waren. Doch das Unschöne blieb, dass

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