Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
dergleichen mehr, nicht wahr. Mir erschien das wie die Inquisition! Unsere Freunde in London verlangten von uns, eine Einheit im Glauben zu erzwingen. Doch es gibt ja nicht einmal zwischen mir und Mrs Welles eine Einheit im Glauben! Wie oft habe ich zu meiner lieben Frau gesagt: ›Liebste Edith, sind wir denn so weit gereist, nur um uns aufzuführen wie die Spanier?‹ Wenn ein Mensch in den Fluss getaucht werden will, dann tauche ich ihn in den Fluss! Wenn dieser Mensch je zu Gott finden soll, nicht wahr, dann geschieht dies allein durch Gottes Willen – nicht durch das, was ich tue oder unterlasse. Was schadet da eine Taufe? Der Mensch verlässt den Fluss ein wenig sauberer als zuvor, und vielleicht ist er ja auch dem Himmelreich ein Schrittchen näher gekommen.«
In manchen Fällen, bekannte Reverend Welles, taufe er Menschen sogar mehrmals im Jahr oder mehrere dutzend Mal hintereinander. Aus seiner Sicht konnte es schließlich nichts schaden.
In den folgenden Jahren bekam das Ehepaar Welles zwei weitere Töchter: Penelope und Theodosia. Sie wurden oben auf dem Berg, neben ihren Schwestern, zur Ruhe gebettet.
Neue Missionare kamen nach Tahiti. Meist hielten sie sich fern von der Matavai-Bucht und den gefährlich liberalen Umtrieben des Reverend Welles. Diese neuen Missionare waren strenger mit den Eingeborenen. Sie führten Gesetze gegen Ehebruch und Polygamie ein, verboten unbefugtes Eindringen, Nicht-Einhalten der Sonntagsruhe, Diebstahl, Kindermord und den römisch-katholischen Glauben. Derweil wandte sich Reverend Welles zusehends von den orthodoxen missionarischen Praktiken ab. Im Jahre 1810 übersetzte er seine Bibel ins Tahitianische, ohne zunächst die Erlaubnis aus London einzuholen. »Ich habe natürlich nicht die ganze Bibel übersetzt, nicht wahr, nur die Teile, von denen ich glaubte, dass sie den Tahitianern gefallen könnten. Meine Fassung ist um einiges kürzer als die Bibel, mit der Sie vertraut sind, Schwester Whittaker. Zum Beispiel habe ich jeden Hinweis auf den Teufel ausgelassen. Ich bin zu der Annahme gelangt, dass es besser ist, nicht allzu offen über den Teufel zu sprechen, denn je mehr die Tahitianer über diesen Fürsten der Dunkelheit erfahren, nicht wahr, desto mehr Respekt und Faszination empfinden sie für ihn. Ich habe schon erlebt, wie eine junge verheiratete Frau in meiner Kirche kniete und ganz ernsthaft zu Satan betete, er solle ihr einen Knaben als Erstgeborenen schenken. Als ich ihren bedauerlichen Irrtum korrigieren wollte, sagte sie zu mir: ›Aber ich will doch die Gunst des einen Gottes erringen, den alle Christen fürchten!‹ Seither vermeide ich jede Erwähnung des Teufels. Man muss sich anpassen, Schwester Whittaker. Man muss sich anpassen!«
Diese Anpassungsfähigkeit kam schließlich auch der London Missionary Society zu Ohren, die daraufhin zutiefst verstimmt vernehmen ließ, das Ehepaar Welles möge seine missionarische Tätigkeit einstellen und umgehend nach England zurückkehren. Doch die London Missionary Society befand sich ja auf der anderen Seite des Globus – wie sollte sie da etwas erzwingen? Überdies predigte Reverend Welles ohnehin längst nicht mehr selbst, sondern gestattete einer gewissen Schwester Manu, die Predigten zu halten, ungeachtet der Tatsache, dass sie ihren anderen Göttern durchaus noch nicht abgeschworen hatte. Aber sie mochte Jesus Christus und sprach sehr beredt über ihn. Diese Nachricht erzürnte London nur noch mehr.
»Aber ich kann mich nun einmal nicht vor der London Missionary Society verantworten«, erklärte der Reverend fast entschuldigend. »Ihre Gesetze sind in England zurückgeblieben, nicht wahr. Man hat dort keine Vorstellung davon, wie die Dinge liegen. Hier kann ich mich nur dem Ursprung aller Gnade beugen, und ich war immer schon der Ansicht, dass der Ursprung aller Gnade seine Freude an Schwester Manu hat.«
Trotz alledem bekannte sich nicht ein Tahitianer voll und ganz zum Christentum, bis im Jahre 1815 der König von Tahiti – König Põmare – all seine Götzenbilder an einen britischen Missionar in Papeete schickte, nebst einem auf Englisch verfassten Brief des Inhalts, dass all seine alten Götter den Flammen überantwortet werden sollten: Er wolle nun endlich Christ werden. Põmare hoffte, durch seine Entscheidung sein Volk zu retten, denn auf Tahiti herrschte große Not. Mit jedem neuen Schiff kamen auch neue Krankheiten. Ganze Familien wurden ausgelöscht, durch die Masern, durch die Pocken, durch
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