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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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erklommen, »habe ich versucht herauszufinden, welche der Gewächse und Nutzpflanzen ursprünglich von Tahiti stammten und welche von früheren Siedlern und Forschern hergebracht worden waren, doch es ist erschreckend schwierig, nicht wahr, so etwas genau zu bestimmen. Die Tahitianer waren mir bei diesem Unternehmen keine große Hilfe, sie glauben nämlich, dass sämtliche Pflanzen – auch die Nutzpflanzen – von den Göttern angebaut wurden.«
    »Der Ansicht sind auch die alten Griechen«, stieß Alma etwas kurzatmig hervor. »Sie sagen, die Götter persönlich hätten die Weinreben und die Olivenhaine gepflanzt.«
    »Ganz recht«, sagte Reverend Welles. »Anscheinend neigt der Mensch dazu zu vergessen, was er selbst erschaffen hat. Inzwischen wissen wir, dass alle Völker Polynesiens Tarowurzeln, Kokospalmen und Brotfruchtbäume mit sich nehmen, wenn sie eine neue Insel besiedeln, doch sie werden Ihnen übereinstimmend erklären, die Götter hätten all das dort angepflanzt. Manche dieser Geschichten sind geradezu fabelhaft. So heißt es, der Brotfruchtbaum sei von den Göttern als Abbild des menschlichen Körpers geformt worden, als Hinweis für uns Menschen, nicht wahr – damit wir wissen, dass uns der Baum nützlich ist. Deswegen ähneln die Blätter des Brotfruchtbaums auch Händen – um den Menschen zu zeigen, dass sie nach dem Baum greifen und dort Nahrung finden sollen. Ja, die Tahitianer sind sogar der Ansicht, dass alle Nutzpflanzen auf der Insel Teilen des menschlichen Körpers gleichen, als Botschaft der Götter, nicht wahr. So wird das Kokosöl, das gegen Kopfschmerzen hilft, aus der Kokosnuss gewonnen, die ihrerseits aussieht wie ein Kopf. Die Früchte der mape -Kastanie sollen Nierenleiden heilen, denn sie sehen, so sagte man mir, selbst aus wie kleine Nieren. Der dunkelrote Saft der fei -Pflanze hilft bei Blutleiden.«
    » Rerum signatura «, murmelte Alma.
    »Ganz recht, ganz recht«, erwiderte Reverend Welles. Alma war sich nicht sicher, ob er ihr überhaupt zugehört hatte. »Auch die Zweige der Paradiesfeige, so wie dieser hier, Schwester Whittaker, stehen symbolisch für den menschlichen Körper. Aufgrund ihrer Gestalt gilt die Feige als Zeichen des Friedens – als Zeichen der Menschlichkeit, könnte man sagen. Man legt einen dieser Zweige seinem Feind zu Füßen, um zu zeigen, dass man sich ergeben will oder zu Verhandlungen bereit ist. Diese Entdeckung hat mir in meiner ersten Zeit auf Tahiti sehr geholfen, das kann ich Ihnen sagen! Ich habe nur so um mich geworfen mit Paradiesfeigenzweigen, nicht wahr, damit man mich nicht tötet und auffrisst!«
    »Hätte man Sie denn tatsächlich getötet und aufgefressen?«, wollte Alma wissen.
    »Vermutlich nicht, obwohl Missionare dergleichen ja stets befürchten. Wissen Sie, es gibt da ein recht hübsches und geistreiches Beispiel für Missionarshumor, die Frage nämlich: ›Wenn ein Missionar von einem Kannibalen verspeist wird, der den Missionar alsbald verdaut und anschließend stirbt, wird dann beim Jüngsten Gericht der verdaute Körper des Missionars wiederauferstehen? Falls nicht, woher soll der heilige Petrus dann wissen, welchen Teil er in den Himmel und welchen in die Hölle schicken muss?‹ Hahaha!«
    »Haben Sie über die Geschichte, die Sie eben erwähnten, auch mit Mr Pike gesprochen?«, fragte Alma. »Dass die Götter den Pflanzen bestimmte Formen gegeben haben, meine ich, um den Menschen ihren Zweck anzuzeigen?«
    »Mr Pike und ich haben über so vieles gesprochen, Schwester Whittaker!«
    Alma wusste nicht recht, wie sie nach Einzelheiten fragen sollte, ohne dabei zu viel von sich preiszugeben. Wie sollte sie dieses große Interesse am Angestellten ihres Vaters erklären? Sie wollte keinen Verdacht erwecken. Was für ein wunderlicher Zeitgenosse Reverend Welles doch war! Es gelang ihm, gleichzeitig offen und undurchschaubar zu sein. Sooft die Rede auf Ambrose kam, suchte Alma nach Regungen in seinem Gesicht, aber ihm war nichts anzumerken. Er betrachtete die Welt stets mit derselben gelassenen Miene. Seine Stimmung blieb in jeder Lebenslage die gleiche. Er war so beständig wie ein Leuchtturm. Und seine Aufrichtigkeit war so umfassend und absolut, dass sie beinahe zur Maske wurde.
    Schließlich erreichten sie den Friedhof mit den kleinen, von der Sonne gebleichten, teilweise zu Kreuzen gehauenen Grabsteinen. Reverend Welles führte Alma direkt zu Ambroses Grab, das gepflegt und mit einem kleinen Grabstein markiert war. Es war ein

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