Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Gewalt der Liebe, dachte Alma bei sich, konnte oft brutaler sein als jede andere Form der Gewalt.
Ihr erster Impuls war es, mit aller Hast nach Hause zurückzukehren. Doch White Acre war ja nicht mehr ihr Zuhause, und allein bei der Vorstellung, das alte Anwesen zu betreten, ohne dort Hanneke de Groots Gesicht zu sehen, fühlte sich Alma schwach und verloren. So begab sie sich stattdessen in ihr Arbeitszimmer und verfasste eine Antwort, prüfte ihr eigenes Herz auf der Suche nach dem kleinsten Körnchen Trost, ohne dass es ihr recht gelang. Ganz gegen ihre Gewohnheit griff sie schließlich zur Bibel, zum Buch der Psalmen. Sie schrieb ihrer Schwester: »Der Herr ist nahe bei denen, die zerbrochnes Herzens sind.« Den ganzen Tag verbrachte sie hinter verschlossener Tür, stumm gebeugt unter der Last der Trauer. Ihren Onkel wollte sie mit den traurigen Neuigkeiten nicht belasten. Er war so froh gewesen zu erfahren, dass sein geliebtes Kindermädchen Hanneke de Groot noch unter den Lebenden weilte, und Alma brachte es nicht übers Herz, ihn von ihrem Tod und von den anderen Trauerfällen zu unterrichten. Sie wollte seinem gütigen, frohgemuten Sinn kein Leid aufbürden.
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Kaum vierzehn Tage später sollte sie sich in diesem Entschluss bestärkt sehen, denn ihr Onkel Dees wurde von einem Fieber befallen, legte sich zu Bett und starb noch am selben Tag. Solche Fiebererkrankungen suchten Amsterdam im Sommer, wenn das Wasser trüb und stinkend in den Kanälen stand, regelmäßig heim. Am Morgen saßen Dees, Alma und Roger noch einträchtig beim Frühstück, und einen Tag später zur Frühstücksstunde lebte Dees nicht mehr. Er war sechsundsiebzig Jahre alt geworden. Der Verlust – so kurz nach all den anderen – erschütterte Alma derart, dass sie kaum wusste, wie sie ihn ertragen sollte. Nachts lief sie in ihrem Zimmer auf und ab, eine Hand an die Brust gepresst, weil sie fürchtete, ihr Brustkorb müsse zerspringen und ihr Herz zu Boden fallen. Sie hatte ihren Onkel nur so kurze Zeit gekannt – nicht einmal annähernd lang genug! Weshalb fehlte es stets an Zeit? Da war er am einen Tag noch da, und schon am nächsten wurde er heimgerufen. Alle waren sie heimgerufen worden.
Halb Amsterdam schien versammelt, um Doktor Dees van Devender beizusetzen. Seine vier Söhne und die beiden ältesten Enkel trugen den Sarg vom Haus an der Plantage Parklaan bis zur Kirche eine Straße weiter. Ein Knäuel aus Schwiegertöchtern und Enkelkindern hielt sich weinend umschlungen; sie zogen Alma in ihre Mitte, und sie schöpfte Trost aus diesem Familiengedränge. Dees war allseits geliebt worden. Alle hatten einen Verlust erlitten. Überdies offenbarte der Familienpfarrer, dass Doktor van Devender zeit seines Lebens ein stiller Gönner wohltätiger Zwecke gewesen war; unter den Trauernden befanden sich etliche, die er über die Jahre hinweg unterstützt oder sogar gerettet hatte.
Im Licht der endlosen, nächtlichen Debatten, die Alma und Dees geführt hatten, wusste Alma nicht, ob sie angesichts dieser Enthüllung lachen oder weinen sollte. Seine lebenslange, heimliche Großzügigkeit, dachte sie, bescherte ihm gewiss einen hohen Platz auf Maimonides’ Stufenleiter der Wohltätigkeit, dennoch hätte er ihr ruhig einmal davon erzählen können! Wie konnte er jahrein, jahraus einfach dasitzen und die wissenschaftliche Bedeutung der Selbstlosigkeit kleinreden, der er sich selbst klammheimlich und unermüdlich verschrieben hatte? Alma staunte über ihn. Sie vermisste ihn. Es drängte sie, ihn danach zu fragen, ihn damit zu necken – doch er war nicht mehr da.
Nach der Beisetzung besaß Elbert, Dees’ ältester Sohn, der nun die Leitung des Hortus übernehmen sollte, den Anstand, sich an Alma zu wenden und ihr zu versprechen, dass ihr Platz, sowohl innerhalb der Familie als auch im Botanischen Garten, auch künftig gesichert sei.
»Du brauchst dich um deine Zukunft nicht zu sorgen«, sagte er. »Wir möchten alle, dass du bei uns bleibst.«
»Ich danke dir, Elbert«, stieß Alma hervor, und die beiden Verwandten umarmten einander.
»Es ist mir ein Trost zu wissen, dass du ihn ebenso geliebt hast wie wir alle«, sagte Elbert.
Doch keiner hatte Dees mehr geliebt als Roger der Hund. Vom ersten Augenblick an, als Dees erkrankt war, wich der kleine rote Hund nicht vom Bett seines Herrn, und dort blieb er auch, als der Leichnam längst fortgebracht worden war. Er stemmte sich gegen die kalten Laken und rührte sich nicht vom Fleck. Er
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